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Ammoniumnitrat – darum ist die Chemikalie so gefährlich

epa08583795 A still image grabbed from a mobile phone video and made available by Twitter user @tayyaraoun1 showing the moment of the massive explosion that rocked the harbor area of Beirut, Lebanon,  ...
Die gewaltige Detonation im Hafen von Beirut ist vermutlich auf die Entzündung von mehr als 2700 Tonnen Ammoniumnitrat zurückzuführen. Bild: EPA

Ammoniumnitrat – darum ist die Chemikalie so gefährlich und so kam sie nach Beirut

05.08.2020, 13:2506.08.2020, 11:18
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Die verheerende Explosion am Abend des 4. August im Hafen von Beirut erschütterte die gesamte libanesische Hauptstadt und Umgebung und zerstörte grosse Teile des Hafens. Die Katastrophe forderte mehr als 100 Todesopfer, verletzte tausende und machte hunderttausende obdachlos. 2750 Tonnen Ammoniumnitrat seien explodiert, sagte Abbas Ibrahim, der Chef der libanesischen Sicherheitsdienste. Warum sich die Substanz entzündet hat, ist nach wie vor unklar. Die Chemikalie war sechs Jahre lang ohne Sicherheitsvorkehrungen im Hafen gelagert worden. Der libanesische Ministerpräsident Hassan Diab bezeichnete dies als inakzeptabel.

Warum ist Ammoniumnitrat so gefährlich?

Tatsächlich erinnert die gewaltige Detonation in Beirut an ein verheerendes Chemie-Unglück vor fünf Jahren im chinesischen Tianjin. Damals waren 800 Tonnen der Chemikalie explodiert, 173 Menschen kamen dabei ums Leben. Auch dort kam es zu zwei innerhalb kurzer Zeit aufeinanderfolgenden Explosionen. In Tianjin war die Feuerwehr im Einsatz, als es zur Explosion kam. Auch in Beirut bekämpfte die Feuerwehr laut Berichten in der Hafenanlage einen Brand.

epaselect epa04884801 An aerial view of a large hole in the ground in the aftermath of a huge explosion that rocked the port city of Tianjin, China, 15 August 2015. Explosions and a fireball at a chem ...
In Tianjin hinterliessen die Explosionen einen enormen Krater. Bild: EPA/EPA

Ammoniumnitrat (NH4NO3) besteht aus farblosen Kristallen und ist ein Salz, das sich aus Ammoniak und Salpetersäure herstellen lässt. Die Substanz, die zur Herstellung von Düngemitteln und Sprengstoffen dient, ist unvermischt weitgehend ungefährlich. Allerdings ist sie wärmeempfindlich und kann unter bestimmten Umständen explodieren.

Gefährlich kann es werden, wenn sehr grosse Mengen dicht beieinander stehen – Ammoniumnitrat kann sich dann wie eine Art grosser Komposthaufen erhitzen. Ist die Menge gross genug, kann es Feuer fangen und schmelzen. Dabei kann aussen eine harte Schicht entstehen, während der Brand innen weiter schwelt. Es entstehen Gase, die einen hohen Druck erzeugen und dann explosiv ausbrechen.

Säcke mit Ammoniumnitrat in Lviv, Ukraine
Grosse Mengen von Ammoniumnitrat können gefährlich sein. Bild: Shutterstock

Bei 170 °C beginnt die harmlose Zersetzung in Wasser und Lachgas (Distickstoffmonoxid, N2O):
NH4NO3 —> 2 H2O + N2O
Durch eine starke Initialzündung hingegen zerfällt Ammoniumnitrat explosiv direkt zu Wasser, Stickstoff und Sauerstoff:
2 NH4NO3 —> 4 H2O + 2 N2 + O2

Dies erklärt die enorme Sprengkraft der Substanz: Sie zerfällt in ausnahmslos gasförmige Zersetzungsprodukte. Das sogenannte Schwadenvolumen ist eines der höchsten überhaupt und beträgt 980 Liter pro Kilogramm, das heisst, ein Kilogramm Ammoniumnitrat zerfällt schlagartig zu 980 Litern Wasserdampf, Stickstoff und Sauerstoff. Zum Vergleich: Das Schwadenvolumen des Sprengstoffs TNT liegt bei lediglich 740 l/kg, jenes von Schwarzpulver bei 337 l/kg.

Ammoniumnitrat
Ammoniumnitrat ist ein Salz aus Ammoniak und Salpetersäure.Bild: Shutterstock

Eine Initialzündung, die Ammoniumnitrat zur Explosion bringt, ist freilich nicht einfach herbeizuführen – es braucht dazu extreme Bedingungen. Wenn die Chemikalie indes mit anderen Substanzen verunreinigt ist, kann sich ihre Explosivität erhöhen. Dies ist etwa der Fall, wenn Ammoniumnitrat mit Öl verunreinigt ist – es wird dann hochexplosiv. Genau dies könnte in Beirut der Fall gewesen sein, wie Gabriel da Silva, Chemieprofessor an der Universität von Melbourne, der britischen Zeitung «Guardian» erklärt.

Aufgrund seiner Gefährlichkeit wird der Umgang mit Ammoniumnitrat – zumindest in Deutschland – auch im Sprengstoffgesetz geregelt. Strenge Sicherheitsauflagen sind in vielen Ländern Pflicht. In Beirut wurden sie, wie es scheint, sträflich vernachlässigt.

Wie gefährlich diese Chemikalie sein kann, sollte aber längst bekannt sein. Es kam schon mehrfach zu Katastrophen, als Ammoniumnitrat explodierte.

Woher kam das Ammoniumnitrat?

Die Chemikalie soll in einer Halle im Hafen von Beirut in Säcken gelagert worden sein. Nach Beirut gelangte das Ammoniumnitrat auf dem Frachtschiff «Rhosus», das unter moldawischer Flagge am 23. September 2013 aus dem Hafen Batumi in Georgien ausgelaufen war. Ziel der «Rhosus» war eigentlich der Hafen Biera in Mosambik im südlichen Afrika, doch bereits im Mittelmeer hatte das Schiff mit technischen Problemen zu kämpfen und lief deshalb den Hafen von Beirut an.

Das Frachtschiff «Rhosus», das das Ammoniumnitrat in den Hafen von Beirut transportierte.
https://www.balticshipping.com/vessel/imo/8630344#gallery-2
Die «Rhosus» brachte die fatale Ladung 2013 nach Beirut.Bild: balticshipping.com

Die libanesische Hafenbehörde untersagte der «Rhosus» die Weiterfahrt aufgrund verschiedener Mängel. Das Schiff blieb im Hafen liegen, die Crew durfte das Schiff zunächst wegen immigrationsrechtlicher Bestimmungen nicht verlassen. Der Inhaber gab das Schiff in der Folge einfach auf – ein Vorgang, der gar nicht so selten ist, wie man denken könnte. Schnell ging der Proviant aus, so dass es an Bord zu unhaltbaren Zuständen kam. Schliesslich durfte die Besatzung bis auf vier Mitglieder und den Kapitän ausreisen. Auch diese durften nach einiger Zeit aus humanitären Gründen heimkehren, wobei unter anderem auch die «gefährliche Natur der Ladung» auf dem Schiff eine Rolle spielte.

Diese «gefährliche Ladung» wurde danach – spätestens bis Oktober 2015 – gelöscht und in eine Lagerhalle im Hafengebiet von Beirut gebracht. Dort verblieb das Ammoniumnitrat bis zur fatalen Explosion am 4. August 2020.

(dhr)

Videos zeigen das Ausmass der Katastrophe in Beirut

Video: watson/nfr
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45 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Steibocktschingg
05.08.2020 13:38registriert Januar 2018
Eine weitere chemische Eigenschaft, die vermutlich ebenfalls eine Rolle spielt für die Explosivität von NH4NO3 ist die Tatsache, dass die zwei Stickstoffatome im Salz die zwei höchstmöglichen Oxidationsstufen für Stickstoff aufweisen, -III und +V. Dementsprechend streben sie danach, eine für sie stabilere Verbindung, N2 (elementarer Stickstoff, wie er in der Luft vorkommt) zu bilden, was Komproportionierung genannt wird. Dabei entstehen weit mehr Mole an Gas als im Feststoff und da jedes Mol Gas in der Regel um 20 bis 30 Liter Volumen hat, gibt das einen gewaltigen Druck.
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Cirrum
05.08.2020 13:38registriert August 2019
Ich möchte gar nicht wissen, was alles noch so in Fässern in den Meeren und unter der Erde vergraben ist. Chemieentsorgungen sind sehr teuer und dadurch klar, dass sie bestimmt nicht fachgerecht entsorgt werden.
20222
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chrissy_dieb
05.08.2020 13:51registriert Januar 2020
Gemäss zirkulierenden Bildern war es nicht einfach nur Ammoniumnitrat (welches auch als Dünger verwendet werden kann), sondern konkret "prilled ammonium nitrat " - eine spezielle Formulierung für Sprenganwendungen. Der rote Rauch könnte von Stickoxiden (NOx - hauptsächlich wohl NO2 wie bei rauchender Salpetersäure) stammen.

Gemäss Herstellerangaben bedarf es regulierter und lizenzierter Lagerbedingungen. Vermutlich liegt da die Knacknuss: Gut möglich, das dies nicht der Fall war und sowieso sollte man nicht Tonnen Sprengstoff neben dem Stadtzentrum lagern.

Alles Gute für Beirut.
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