Ammoniumnitrat – darum ist die Chemikalie so gefährlich und so kam sie nach Beirut
Die verheerende Explosion am Abend des 4. August im Hafen von Beirut erschütterte die gesamte libanesische Hauptstadt und Umgebung und zerstörte grosse Teile des Hafens. Die Katastrophe forderte mehr als 100 Todesopfer, verletzte tausende und machte hunderttausende obdachlos. 2750 Tonnen Ammoniumnitrat seien explodiert, sagte Abbas Ibrahim, der Chef der libanesischen Sicherheitsdienste. Warum sich die Substanz entzündet hat, ist nach wie vor unklar. Die Chemikalie war sechs Jahre lang ohne Sicherheitsvorkehrungen im Hafen gelagert worden. Der libanesische Ministerpräsident Hassan Diab bezeichnete dies als inakzeptabel.
Warum ist Ammoniumnitrat so gefährlich?
Tatsächlich erinnert die gewaltige Detonation in Beirut an ein verheerendes Chemie-Unglück vor fünf Jahren im chinesischen Tianjin. Damals waren 800 Tonnen der Chemikalie explodiert, 173 Menschen kamen dabei ums Leben. Auch dort kam es zu zwei innerhalb kurzer Zeit aufeinanderfolgenden Explosionen. In Tianjin war die Feuerwehr im Einsatz, als es zur Explosion kam. Auch in Beirut bekämpfte die Feuerwehr laut Berichten in der Hafenanlage einen Brand.
Ammoniumnitrat (NH4NO3) besteht aus farblosen Kristallen und ist ein Salz, das sich aus Ammoniak und Salpetersäure herstellen lässt. Die Substanz, die zur Herstellung von Düngemitteln und Sprengstoffen dient, ist unvermischt weitgehend ungefährlich. Allerdings ist sie wärmeempfindlich und kann unter bestimmten Umständen explodieren.
Gefährlich kann es werden, wenn sehr grosse Mengen dicht beieinander stehen – Ammoniumnitrat kann sich dann wie eine Art grosser Komposthaufen erhitzen. Ist die Menge gross genug, kann es Feuer fangen und schmelzen. Dabei kann aussen eine harte Schicht entstehen, während der Brand innen weiter schwelt. Es entstehen Gase, die einen hohen Druck erzeugen und dann explosiv ausbrechen.
Bei 170 °C beginnt die harmlose Zersetzung in Wasser und Lachgas (Distickstoffmonoxid, N2O):
NH4NO3 —> 2 H2O + N2O
Durch eine starke Initialzündung hingegen zerfällt Ammoniumnitrat explosiv direkt zu Wasser, Stickstoff und Sauerstoff:
2 NH4NO3 —> 4 H2O + 2 N2 + O2
Dies erklärt die enorme Sprengkraft der Substanz: Sie zerfällt in ausnahmslos gasförmige Zersetzungsprodukte. Das sogenannte Schwadenvolumen ist eines der höchsten überhaupt und beträgt 980 Liter pro Kilogramm, das heisst, ein Kilogramm Ammoniumnitrat zerfällt schlagartig zu 980 Litern Wasserdampf, Stickstoff und Sauerstoff. Zum Vergleich: Das Schwadenvolumen des Sprengstoffs TNT liegt bei lediglich 740 l/kg, jenes von Schwarzpulver bei 337 l/kg.
Eine Initialzündung, die Ammoniumnitrat zur Explosion bringt, ist freilich nicht einfach herbeizuführen – es braucht dazu extreme Bedingungen. Wenn die Chemikalie indes mit anderen Substanzen verunreinigt ist, kann sich ihre Explosivität erhöhen. Dies ist etwa der Fall, wenn Ammoniumnitrat mit Öl verunreinigt ist – es wird dann hochexplosiv. Genau dies könnte in Beirut der Fall gewesen sein, wie Gabriel da Silva, Chemieprofessor an der Universität von Melbourne, der britischen Zeitung «Guardian» erklärt.
Aufgrund seiner Gefährlichkeit wird der Umgang mit Ammoniumnitrat – zumindest in Deutschland – auch im Sprengstoffgesetz geregelt. Strenge Sicherheitsauflagen sind in vielen Ländern Pflicht. In Beirut wurden sie, wie es scheint, sträflich vernachlässigt.
Wie gefährlich diese Chemikalie sein kann, sollte aber längst bekannt sein. Es kam schon mehrfach zu Katastrophen, als Ammoniumnitrat explodierte.
- 21.9.1921, Ludwigshafen am Rhein, Deutschland:
Bei zwei kurz aufeinanderfolgenden Explosionen im Oppauer Ammoniakwerk der BASF detonieren rund 400 Tonnen Ammoniumnitrat. 559 Menschen kommen dabei ums Leben, grosse Teile der Fabrik und der umliegenden Bebauung werden zerstört. - 16.4.1947, Texas City, USA:
Zwei mit Ammoniumnitrat beladene Frachter explodieren im Hafen der amerikanischen Stadt, 500 bis 600 Menschen sterben. - 21.9.2001, Toulouse, Frankreich:
Bei einer Explosion in der Düngemittel-Fabrik AZF kommen 31 Menschen ums Leben. Es entstehen riesige Sachschäden. - 22.4.2004, Ryongchŏn, Nordkorea:
Ein mit Ammoniumnitrat beladener Zugwaggon explodiert, was mindestens 161 Menschen das Leben kostet. 1300 Menschen werden verletzt, rund 8000 Häuser zerstört oder beschädigt. - 17.4.2013, West, Texas, USA:
In der West Fertilizer Company bricht ein Brand aus, worauf es zu einer Explosion kommt. 14 Menschen sterben, 180 werden verletzt. - 12.8.2015, Tianjin, China:
Bei zwei Explosionen von vermutlich insgesamt 800 Tonnen Ammoniumnitrat im Tianjin Port Container Logistics Center kommen mindestens 173 Menschen ums Leben. Die Explosionen werden wie ein Erdbeben registriert und hinterlassen einen enormen Krater.
Woher kam das Ammoniumnitrat?
Die Chemikalie soll in einer Halle im Hafen von Beirut in Säcken gelagert worden sein. Nach Beirut gelangte das Ammoniumnitrat auf dem Frachtschiff «Rhosus», das unter moldawischer Flagge am 23. September 2013 aus dem Hafen Batumi in Georgien ausgelaufen war. Ziel der «Rhosus» war eigentlich der Hafen Biera in Mosambik im südlichen Afrika, doch bereits im Mittelmeer hatte das Schiff mit technischen Problemen zu kämpfen und lief deshalb den Hafen von Beirut an.
Die libanesische Hafenbehörde untersagte der «Rhosus» die Weiterfahrt aufgrund verschiedener Mängel. Das Schiff blieb im Hafen liegen, die Crew durfte das Schiff zunächst wegen immigrationsrechtlicher Bestimmungen nicht verlassen. Der Inhaber gab das Schiff in der Folge einfach auf – ein Vorgang, der gar nicht so selten ist, wie man denken könnte. Schnell ging der Proviant aus, so dass es an Bord zu unhaltbaren Zuständen kam. Schliesslich durfte die Besatzung bis auf vier Mitglieder und den Kapitän ausreisen. Auch diese durften nach einiger Zeit aus humanitären Gründen heimkehren, wobei unter anderem auch die «gefährliche Natur der Ladung» auf dem Schiff eine Rolle spielte.
Diese «gefährliche Ladung» wurde danach – spätestens bis Oktober 2015 – gelöscht und in eine Lagerhalle im Hafengebiet von Beirut gebracht. Dort verblieb das Ammoniumnitrat bis zur fatalen Explosion am 4. August 2020.
(dhr)
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