Agrarökologie, was für ein Name. Und wahrscheinlich einer, der die wenigsten Gehirne gleich zum Glühen bringt. Der nicht zwingend die Nervenzellen anheizt, auf dass die darauf sitzenden Synapsen zu Tausenden, ja zu Millionen losfeuern, als wäre eine Pyrotechniker-Tagung im Gange, deren Besucher zum überwiegenden Teil aus Pyromanen bestehen.
Aber der Name ist selten genug, um sich ein Urteil zu bilden. Nicht bei Menschen und auch nicht bei den Wissenschaften.
Und Agrarökologie ist viel mehr als nur eine Wissenschaft. Sie ist auch eine Praxis – vor allem aber ist sie eine soziale Bewegung, die sich für eine gerechte und selbstbestimmte Landwirtschaft einsetzt.
Es geht also nicht nur um ökologischen Landbau, um die so viel beschworene Nachhaltigkeit und den Kampf gegen Pestizide, gegen Überdüngung und Wasserverschmutzung, gegen das Sterben der Arten- und Sortenvielfalt und gegen den Verlust der Fruchtbarkeit, sondern ebenso darum, dass die weltweite Ernährungspolitik, also das gesamte System der Lebensmittelproduktion, künftig den lokalen Begebenheiten angepasst wird. Dass traditionelles Wissen aus Gründen der Produktivitäts- und Profitsteigerung nicht übergangen, sondern bewahrt und weitergegeben und dass das Recht auf eigenes Land und eigenes Saatgut gewährleistet wird.
Samen, Pflanzen, Land, Wasser, Wissen, sie sollen in der Hand der Menschen bleiben, die damit Lebensmittel erzeugen.
Die Agrarökologie will mit der Natur arbeiten statt gegen sie. Und Agrarökologinnen wie Johanna Jacobi zeigen mit ihrer Arbeit, dass der Mensch nicht im Widerspruch zu ihr stehen muss.
Sie haben Geographie, Biologie und auch noch Sozialanthropologie studiert. Warum diese drei Fächer?
Johanna Jacobi: Ich habe mit 16 eine Jugendreise nach Indien mitgemacht, wo wir einige Zeit mit Baumwollbauernfamilien verbracht haben, die auf Bio umstellten, um aus der Schuldenfalle der transgenen Baumwolle herauszukommen. Das hat mein Interesse an Landnutzungsfragen geweckt, was ich am besten im Geographiestudium verorten konnte. Biologie, da ich mich für Botanik und Nutzpflanzen interessierte und Sozialanthropologie, weil mir bei den naturwissenschaftlichen Studiengängen der Mensch gefehlt hat. Ich wollte verstehen, was für Lebensformen und Landnutzungsformen es gibt, von denen man lernen kann, und auch was die Konflikte und Lösungsansätze sind.
Sie wollen, vereinfacht gesagt, den Menschen wieder mit der Natur versöhnen. Welche Rahmenbedingungen müssen gegeben sein, damit so ein komplexes Unterfangen gelingt?
Dabei geht es natürlich nicht nur um Landwirtschaft und Ernährung, wir müssen uns an die Transformation von Wirtschafts-, Verwaltungs-, Bildungsbereichen und vielem anderen heranwagen, aber nicht von oben «verordnet», sondern aus der Gesellschaft heraus. Dazu können wir alle einen Beitrag leisten. Ich versuche in der Bildung und Forschung etwas zu bewegen, aber engagiere mich auch gesellschaftlich im Verein Agroecology Works!, dem Schweizer Netzwerk für Agrarökologie. Besonders wichtig ist mir die Bewusstseinsbildung zum Thema Landwirtschaft und Ernährung, das Wissen um die Problematik, aber auch um die vielfältigen Lösungen. Ich versuche, über das Bild «der Mensch als Parasit» hinauszusehen, sodass wir Menschen Teil der Lösung werden können. Ich denke, viel von dem, was wir tun und was wir für möglich halten (und dadurch ermöglichen), ist durch unser Menschenbild bestimmt.
Wo nehmen sie bloss all diesen Optimismus her?
Was mich motiviert, sind die vielen Menschen, die ich über meine Arbeit kennenlerne, die genau das versuchen. Die Agrarökologiebewegung ist eine sehr hoffnungsvolle Bewegung, die aber gleichzeitig auch klar die Probleme wie Wachstumsparadigmen, Grosskonzerne, industrielle Landwirtschaft, ultraprozessierte Nahrung, Land Grabbing, Pestizide, Machtungleicheiten usw. benennt und bearbeitet.
Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit sind die Leitwörter ihrer Arbeit. Wie können diese in einer globalen Welt, in der besonders der Westen am Ende der Wertschöpfungskette steht, gewährleistet werden?
Mir ist wichtig, dass erst mal in den Konzepten und Theorien zum Thema Nachhaltigkeit überall auch das Thema Gerechtigkeit verankert wird. Das ist leider noch gar nicht selbstverständlich. Um dann natürlich in der Praxis und Politik die Ungerechtigkeit und Nicht-Nachhaltigkeit gezielt anzugehen und die Alternativen zu fördern. Faire Handelsbeziehungen sind ja möglich und müssten eigentlich die Normalität sein und nicht die Ausnahme. Auch gibt es ja schon viele gute Beispiele und Vorschläge. An die muss man sich heranwagen und von ihnen lernen. Ganz wichtig scheint mir dabei, die Menschen zu begeistern und Möglichkeiten zu schaffen, dass sie ihre eigenen Ideen umsetzen können. Schliesslich muss aber auch die Verantwortung von allen Akteuren in den Wertschöpfungsketten eingefordert werden. In der Agrarökologie-Forschung sprechen wir beim Thema Skalierung daher nicht so sehr vom Wachstum einzelner Akteure («scaling up»), sondern von Ausbreitung und Einbezug von mehr Menschen und Land («scaling out»), und von der Entwicklung von Werten und Zukunftsvisionen («scaling deep»). Wir können also genau hier und bei uns anfangen.
Heute gehen laut dem WFP 828 Millionen Menschen auf der ganzen Welt mit leerem Magen ins Bett. Was kann die Agrarökologie im Kampf gegen den Hunger leisten?
In einem Review Paper von über 50 Studien aus den verschiedensten Ländern hat die Forscherin Rachel Bezner-Kerr der Cornell-Universität kürzlich aufgezeigt, dass in fast 80 Prozent der untersuchten Fälle die Ernährungssicherheit signifikant verbessert wurde, wo agrarökologische Praktiken angewandt wurden. Dabei stellten sie und ihr Team fest, dass dieser Effekt umso stärker war, je mehr verschiedene Praktiken kombiniert wurden, und zwar nicht nur ökologische, sondern auch soziale. Zum Beispiel in Malawi, wo Hülsenfrüchte in den Anbau integriert, Kompost, Mulch und mehr verschiedene Anbaufrüchte eingebracht, pflanzenbasierte, selbst gemachte Pestizide angewandt wurden und Bäuer:innen sich gegenseitig trainierten, wurden die besten Ergebnisse erzielt. Oder in Brasilien, wo ein nationales Schulküchenprogramm Produkte von lokalen Kleinbäuer:innen kauft und die Vielseitigkeit des Anbaus und der Ernährung fördert. Dies in Kombination mit einem Premiumpreis für ökologischen Anbau und dem Aufbau von Kooperativen. Die Agrarökologie kann da also sehr viel leisten, wichtig ist einfach, dass es nicht nur um anbautechnische, sondern auch um soziale Innovationen geht. Einige Schweizer NGOs und auch Bundesämter und die DEZA setzen sich für agrarökologische Methoden ein, mit sehr guten Erfolgen.
Besonders Mädchen und Frauen sind die Leidtragenden, wenn es um Nahrungssicherheit geht. Sie werden vielerorts noch immer aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert, sie verzichten als Erste aufs Essen, wenn es knapp wird, und das, obwohl sie in Entwicklungsländern 60 bis 80 Prozent davon produzieren, Trinkwasser oftmals unter erheblichen Gefahren (Vergewaltigung, Krankheiten) und Einbussen (Schulabbruch) beschaffen und schliesslich die Mahlzeiten für ihre Familien zubereiten ...
Frauen sind immer noch deutlich benachteiligt, gerade in Landwirtschaft und Ernährung wird das deutlich. Der letzte FAO-Ernährungsbericht zeigte wieder, dass Frauen und Mädchen überall auf der Welt mehr vom Hunger betroffen sind als Männer und Jungen. Auch in der Schweiz bestehen Ungleichheiten fort, Frauen gehört zum Beispiel viel weniger Land, und es bestehen immer noch grosse Abhängigkeiten und einengende Vorstellungen, die Frauen und die Umsetzung ihrer Ideen und Erfahrungen in der Landwirtschaft und Ernährung ausbremsen.
Sie lehren u. a. ökofeministische Theorien, verfolgen also auch einen geschlechtsspezifischen Ansatz, um den Ernährungs- und Wirtschaftskrisen zu begegnen. Können Sie uns ein Beispiel geben?
Ökofeminismus kommt aus der Evidenz, dass Frauen (und damit auch Kinder) mehr unter Umweltproblemen zu leiden haben, z. B. den Auswirkungen von Pestiziden, da Frauen oft für das Waschen der Behälter und Kleidung zuständig sind und oft ohne Schutz Pestizide anwenden. Aber sie sind auch oft weniger mobil und resilient. An vielen Orten waren und sind Frauen die Ersten, die sich organisieren und sich für den Naturschutz starkmachen. Auch in der Forschung begegne ich diesen Themen: Agro-Extraktivismus – also der Raubbau an natürlichen Ressourcen in der Landwirtschaft – wird in vielen Kontexten von denen, die sich dagegen wehren, als klar westlich-männliche Aktivität wahrgenommen. In meinen Feldforschungen treffe ich öfters auf Konzepte wie «männliche» und «weibliche» Landwirtschaft. Ein Zitat, das mir im Gedächtnis blieb, von einer Bäuerin im Süden von Bolivien, die mir sagte, dass ihr Mann sich um den Soja-Anbau «für den Markt» kümmere und dass sie dort auch Pestizide anwendeten, aber in der Nahrungsproduktion für die Familie und den lokalen Markt, um die sie sich kümmere, würde sie das niemals tun. Interessant war auch, dass uns manche gesagt haben – ohne dass wir in unserer Forschung gezielt danach gefragt hätten –, dass sie die transgene Soja niemals essen und nicht einmal an ihre Hühner und Schweine verfüttern würden. Ähnliche Dissonanzen zwischen Marktanbau und familiärer Landwirtschaft fanden wir bei den spirituellen Vorstellungen, die auf dem Land, das für den anonymen Markt verwendet wird, keine Rolle zu spielen scheinen, wohl aber auf dem Land, mit dem die Familie verbunden ist, von dem sie konsumiert. Eine Nachhaltigkeit in globalen Wertschöpfungsketten scheint mir ohne solche Wertehaltung und ohne faire Preise schwierig.
Gibt es Leute, die lieber nicht wollen, dass Ihre Ergebnisse publik werden? Oder anders gefragt, hat Ihre Forschungsarbeit auch gefährliche Seiten?
Als wir im Rahmen eines Swiss-r4d-Projektes in Bolivien zur Verwendung von Pestiziden im Soja-Anbau forschten, fanden wir nicht nur 65 verschiedene Pestizid-Produkte nur für den Einsatz im Soja-Anbau, sondern auch mehrere in Bolivien verbotene Substanzen (Metamidophos, Monocrotophos und Malathion). Diese Ergebnisse schickten wir an verschiedene Regierungsstellen und zeigten die verbotenen Substanzen auch an. Daraufhin bekam ich Drohungen per E-Mail und der Rektor der Universität Bern bekam einen offiziellen Brief vom Landwirtschaftsminister in Bolivien, er solle meine Forschung stoppen. Ich fühlte mich geehrt. Aber Spass beiseite, weniger als für uns westliche Forscher:innen ist es sehr gefährlich für die Beteiligten vor Ort, die sich gegen Landraub, Pestizide, Monokulturen, Erdölabbau und andere Mega-Projekte einsetzen. Allein im Jahr 2021 wurden weltweit 200 Umweltschützer:innen und indigene Führungspersonen getötet, weil sie sich der Entwaldung, Minengesellschaften oder Agrarbaronen in den Weg stellten, für Landreformen einsetzten oder auch nur auf Missstände aufmerksam machten. Deswegen müssen wir gut aufpassen, dass wir in unserer Forschung keine Einzelpersonen exponieren und unsere Ergebnisse immer anonymisieren.
Was ist das Schönste oder Hoffnungsträchtigste, das Sie während Ihrer Forschungstätigkeit erlebt haben?
Die vielen wunderbaren alternativen Initiativen, mit denen ich ständig in Kontakt bin oder wo ich teils auch selbst mitwirke. Da wären die Samengemeinschaftszucht in Zürich, verschiedenste Gemeinschaftsgärten, besonders eindrücklich war für mich eine Versammlung des Bauernverbands Organicos Sul de Minas, ein anderes Treffen der Landlosen-Bewegung in Brasilien und erst kürzlich ein Erntedankfest einer Solidarischen Landwirtschaft (Solawi) im Schwarzwald, die auf die direkte Zusammenarbeit von Landwirt:innen und Konsument:innen setzt.
Da leben diese Ideen und erfüllen die Menschen, die damit arbeiten. Solchen Initiativen bin ich bisher in allen Forschungskontexten begegnet, ob in Indien, Bolivien, Brasilien, Nicaragua, Kenya, Ghana oder der Schweiz. Überall passiert etwas. Und im Moment ist das hier bei den Tagen der Agrarökologie sichtbar, die den ganzen Oktober überall im Land stattfinden.