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Gendermedizinerin klagt an: Das sagt die Expertin

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Die Hormone, das Gewicht, die Anfälligkeiten für gewissen Krankheiten - Männer und Frauen unterscheiden sich.Bild: Shutterstock
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Gendermedizinerin klagt an: Der Mann soll nicht mehr das Mass in der Forschung sein

Manche Medikamente wirken bei Frauen anders als bei Männern. Manchmal gehen die Frauen in der Forschung auch mal komplett vergessen. Gendermedizinerin Vera Regitz-Zagrosek spricht über die bisherigen Fehler: Der Mann soll nicht mehr das Mass in der Forschung sein.
15.11.2022, 18:2315.11.2022, 18:26
Sharleen Wüest / ch media
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Die Hormone, das Gewicht, die Anfälligkeiten für gewissen Krankheiten – Männer und Frauen unterscheiden sich. Zumindest biologisch. Und doch wird bei der Medikamentenforschung häufig davon ausgegangen, dass beide dieselben Medikamente und dieselbe Dosis einnehmen können. Der Mann ist in der Forschung das Mass.

Das will eine Motion, die im Nationalrat angenommen wurde, ändern. Die Forschung über Beschwerden und Krankheiten, die speziell Frauen betreffen, soll markant erhöht werden. Der Bundesrat anerkennt zwar das Bedürfnis, lehnt aber ein nationales Forschungsprogramm dazu ab. Für Gendermedizinerin Vera Regitz-Zagrosek von der Charité in Berlin ist das nicht akzeptabel.

Vera Regitz-Zagrosek
Bild: zvg
Zur Person
Vera Regitz-Zagrosek ist Fachärztin für innere Medizin und Kardiologie und war von 2007 bis 2019 Direktorin des von ihr gegründeten Berlin Institute for Gender in Medicine an der Charité in Berlin. Zurzeit ist sie Seniorprofessorin an der Charité Berlin und nach einer Gastprofessur 2019 weiterhin an der Universität Zürich tätig. Sie ist zudem Gründungspräsidentin der Deutschen und Internationalen Gesellschaft für geschlechtsspezifische Medizin. Regitz-Zagrosek hat mehr als 200 wissenschaftliche Artikel sowie zwei europäische Standardwerke zur Gendermedizin und zur geschlechtsspezifischen Arzneimitteltherapie veröffentlicht. Sie erhielt für ihre Leistungen im November 2018 das Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland und Ehrendoktorate der Universitäten Innsbruck und Zürich, letzteres 2022.

Wo werden Frauen in Medikamentenforschung vernachlässigt?
Vera Regitz-Zagrosek: Die Kategorie Geschlecht wird oft übersehen. Neue Medikamente werden an Tieren entdeckt - und die Experimente werden zu 80 Prozent an männlichen Tieren durchgeführt. Dadurch können Medikamente, die vor allem bei Frauen wirken würden, gar nicht entdeckt werden. Und man sieht auch nicht, ob sie vielleicht zyklusabhängig anders wirken. Zudem werden später in den klinischen Medikamentenstudien mehr Männer eingeschlossen. Das betrifft vor allem die frühen Phasen der Studien, wo die Dosierungen festgelegt werden. Das alles führt dazu, dass Medikamente weniger gut an die Frauen angepasst sind.

Häufig wird die überwiegend männliche Forschung damit begründet, dass Frauen immer unbemerkt schwanger sein könnten und man das Leben der Ungeborenen mit der Teilnahme an einer Studie nicht in Gefahr bringen will. Legitimiert das Aussortieren der Frauen?
Auf gar keinen Fall. Unsere Frauen sollten es uns wert sein, dass wir uns mehr Mühe mit Medikamentenstudien geben. Viele werden bei älteren Menschen durchgeführt, zumindest im Herz-Kreislauf-Bereich. Da haben wir das Problem mit den Schwangerschaften nicht. Aber für Studien in jüngeren Altersgruppen müssen wir diese Medikamente an Frauen testen. Schwangerschaften kann man heutzutage sicher nachweisen.

Der Bundesrat anerkennt das Bedürfnis nach mehr frauenspezifischer Forschung in der Medizin, lehnt aber ein nationales Forschungsprogramm dazu ab – tut sich diesbezüglich in Deutschland mehr?
Ich verstehe nicht, mit welcher Argumentation der Bundesrat ein nationales Forschungsprogramm Gendermedizin ablehnen sollte. Es ist völlig klar, dass uns Daten zu Frauen fehlen und dass wir nicht wissen, wie wir Herzinfarkte, Schlaganfälle und Diabetes bei Frauen optimal behandeln müssen. Mit dem Wissen um all diese Defizite wäre ein nationales Forschungsprogramm sehr wünschenswert. In Deutschland gibt es tatsächlich mehr Bewegung. Hier ist im Koalitionsvertrag der neuen Regierung verankert worden, dass Gendermedizin weiter in den Vordergrund gerückt werden soll.

Wo sollte die Forschung am dringendsten beginnen?
Ganz dringend ist es, frauenspezifische Risikofaktoren zu untersuchen. Wenn wir zum Beispiel über Risikofaktoren zu Herz-Kreislauf-Problemen sprechen, kommen frauenspezifische Faktoren wie Hormone, Schwangerschaften oder Depressionen in der Liste der wichtigen Risikofaktoren nicht vor. Darüber hinaus muss die Arzneimittelindustrie verpflichtet werden zu untersuchen, ob Frauen und Männer wirklich die gleichen Medikamente in den gleichen Dosierungen brauchen. Es gibt deutliche Anhaltspunkte dafür, dass Frauen häufig niedrigere Dosierungen brauchen.

Studien gehen davon aus, dass Frauen ein erhöhtes Risiko für Nebenwirkungen haben. Um welche Medikamente geht es?
Wir sehen, dass einige Schlafmittel bei Frauen langsamer abgebaut werden und sie am anderen Morgen noch einen Hangover haben. Man weiss auch von einigen Tumormedikamenten und Entzündungshemmern, dass Frauen sie schlechter vertragen als Männer. Das Problem ist tatsächlich, dass es keine flächendeckenden Untersuchungen dazu gibt. Bei Herz-Kreislauf-Medikamenten werden nur bei etwa 12 Prozent der Studien die Nebenwirkungen geschlechtergetrennt veröffentlicht. Es ist sehr viel teurer, später die Arzneimittelnebenwirkungen zu behandeln, als sie früher zu vermeiden.

Herzinfarkte sind ein Beispiel, bei denen Frauen in der Diagnose nicht selten benachteiligt sind, weil ihre Symptome anders sind. Welche weiteren Themen gibt es?
Wir sprechen zu selten über stressbedingte Erkrankungen und über die rheumatischen Autoimmunerkrankungen, die zu etwa 80 Prozent Frauen betreffen. Auch, dass die Mechanismen für einige geschlechtsspezifische Ausprägungen für Lebererkrankungen nicht gut verstanden sind und dass wir zu wenig zur Arzneimitteltherapie in der Schwangerschaft wissen. Es gäbe noch viele weitere Beispiele.

Sollten Frauen von sich aus ihre Hausärztinnen darauf ansprechen?
Es ist ganz wichtig, dass Frauen ihre Hausärztinnen und Hausärzte fragen, ob ihre Medikamente oder Therapieverfahren ausreichend an Frauen getestet worden sind, ob es Dosisfindungsstudien für Frauen und Männer gibt und ob man genau weiss, dass die Medikamente bei den Geschlechtern nicht unterschiedliche Nebenwirkungen haben.

Kommt es bei ärztlichen Untersuchungen häufig vor, dass Krankheitssymptome fälschlicherweise mit der Mens oder der psychischen Verfassung der Frau begründet werden?
Es gibt viele Untersuchungen, die darauf hinweisen, dass Frauen als Patientinnen weniger ernst genommen werden. Dass zum Beispiel Herzerkrankungen bei ihnen übersehen werden, weil man die Symptome als «psychisch» bewertet.

Wie können Frauen selbst abschätzen, ob zum Beispiel Schmerzen im Unterleib etwas Ernsthaftes bedeuten könnten oder normal sind?
Das können Frauen selbst nicht abschätzen. Das können Patientinnen und Patienten eigentlich nie. Das ist auch für Ärzte ein schwieriges Problem zu wissen, wie die Schmerzen bewertet werden müssen. Es erfordert Aufmerksamkeit, Zuhören und eine sorgfältige Diagnostik.

Welche Veränderung in der klinischen Forschung möchten Sie als Frau miterleben?
Ich möchte, dass in allen Studien die Erforschung von Unterschieden zwischen Frauen und Männern mit eingeplant wird. Und dass in allen Arzneimitteltestungen klargestellt wird, welche Dosis eine Frau und welche ein Mann braucht sowie welche Nebenwirkungen beim jeweiligen Geschlecht typisch und vermeidbar sind.

Gehen Sie die Forschung anders an als Ihre männlichen Kollegen?
Es ist tatsächlich so, dass Frauen manchmal andere Strategien haben und dass für sie andere Dinge im Vordergrund stehen. Ich glaube, Frauen sind eher an sogenannten weichen Endpunkten interessiert wie zum Beispiel Lebensqualität und Lebenszufriedenheit. Das berücksichtigen sie in Studien manchmal stärker als Männer.

Wie lange, denken Sie, wird es noch gehen, bis in der klinischen Forschung Geschlechtsgleichheit herrscht?
Wenn es von der Politik Unterstützung gibt und wirklich anerkannt wird, dass geschlechtsspezifische Aspekte auch erforscht werden müssen, können wir sicher in fünf Jahren einen grossen Fortschritt machen.

Die Universität Zürich in der Vorreiterrolle
Punkto geschlechtsspezifischer Forschung geht auch an der Universität Zürich etwas: Ein neuer Lehrstuhl Gendermedizin soll spätestens im Jahr 2024 eingeführt werden. Zurzeit sucht die Universität nach einer geeigneten Professorin oder einem geeigneten Professor. Es wäre ein Novum in der Schweiz und ein Meilenstein für die Universität Zürich. «Die offensichtlichen biologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen werden weder in der Forschung noch in der Praxis ausreichend berücksichtigt», schreibt Beatrice Beck Schimmer, die Direktorin der Universitären Medizin Zürich. In der Forschung sowie im Vermitteln von Wissen in Gendermedizin in der Ausbildung von zukünftigen Ärztinnen und Ärzten gebe es grosse Defizite.

Auch ist die Einrichtung eines klinischen Zentrums, dem Women's Health Center, geplant. «Dieses hat das Ziel, die Frauengesundheit in Prävention, Diagnostik, Therapie und Rehabilitation zu berücksichtigen», schreibt Beatrice Beck Schimmer. Die Universität Zürich bietet zudem bereits seit Mai 2021 zusammen mit der Universität Bern einen Studiengang für Ärztinnen und Ärzte im Bereich Gendermedizin an.
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123 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Silberfisch
15.11.2022 19:05registriert Januar 2018
Längst überfällig, diese Differenzierung.
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Mijasma
15.11.2022 18:37registriert Oktober 2018
Endlich und für Kinder wird auch zu wenig geforscht.
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Lushchicken
15.11.2022 19:18registriert Oktober 2014
Längst überfällig. Und jetzt hole ich mir Popcorn für die Lektüre der Kommentare. 🍿
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