Auf der Spichermatt in Stans stand bis vor fünf Jahren ein altes, stattliches Bauernhaus. Darin wohnte Melchior Joller, ein angesehener Rechtsanwalt und Nationalrat der Liberalen. Ein Mann der Ratio, der nicht an übersinnliche Dinge glaubte – bis ihn der Geist seiner Grossmutter Veronika Gut im Jahre 1862 in den Wahnsinn trieb.
Das Poltern, das dieser Geist veranstalte, war so laut, dass die Leute verwundert vor dem Anwesen stehen blieben. Faustgrosse Steine flogen aus dem Haus, Äpfel hüpften durch die Küche, Möbel wirbelten durch die Zimmer, Fenster wurden auf- und wieder zugeschlagen, ein brauner Armknochen schwebte im Raum. Und manchmal berührte etwas wie «spitze, kalte Hundekrallen» Melchior Jollers Gesicht.
Sein Sohn Oskar war neun Jahre alt, als er die weisse Gestalt in der Holzkammer sah und vor lauter Angst in Ohnmacht fiel.
Die Leute lachten über den Nationalrat und seine Spukgeschichten, der bald schon die Behörden über das seltsame Treiben in seinem Haus informierte. Der Regierungsrat schickte eine Untersuchungskommission hin und die Familie Joller zog für ein paar Tage aus. Doch die Männer versuchten nicht die Anwesenheit eines Geistes zu prüfen, sondern fahndeten nur nach Betrügereien der Jollers. Sie fanden nichts. Und dieses Nichts bedeutete für Melchior das Ende. Er zog mit Frau und Kindern nach Rom, wo er vergeblich um eine Audienz beim Papst bat. 1865 starb er als gebrochener Mann. Er war 47 Jahre alt.
Nur wer war diese Frau, die ihren Enkel das Grausen lehrte?
9'000 Bewohner zählte man in Nidwalden im Jahr 1798. Es war das Jahr, in dem die Alte Eidgenossenschaft unter dem Druck der revolutionären französischen Truppen zusammenbrach. Napoleon war gekommen und errichtete die Helvetische Republik. Jetzt mussten ihre Bürger nur noch auf die neue Verfassung schwören; auf die Freiheit, die Gleichheit und die Brüderlichkeit.
Aber die ländlichen Nidwaldner schwörten allein auf Gott. Sicher nicht auf ein fremdes Papier, auf dem noch fremdere Gesetze standen, die ihnen ihre Privilegien wegnahmen. Sollen doch die von «ennet dem See» schwören, auf was sie wollen. Die Vaterländer aber – so nannte man damals das konservative Lager – würden für die gottgewollte alte Ordnung kämpfen – bis zum bitteren Ende.
Der Kopf der Aufmüpfigen war weiblich, starrsinnig, tief katholisch und gehörte Veronika Gut, der Grossmutter von Melchior Joller. «Es grosses, schwärs Wiibervolch» sei sie gewesen, schrieb der Enkel in sein Tagebuch. Die reiche Bäuerin fuhr morgens mit einem Boot über den Vierwaldstättersee an den Luzerner Markt, wo sie Obst und Gemüse verkaufte und mit Pistolen, Gewehren und Schiesspulver zurückkam. Ihr ganzes Wesen war durchdrungen von dieser einen Sache: Die Unabhängigkeit ihres heimatlichen Bergtals musste gewahrt bleiben. Keine übergeordnete Bürokraten und schon gar kein kleiner Korse darf von draussen in ihre kleine Welt hineinfummeln.
Veronika Gut hielt auf der Spichermatt heimliche Sitzungen ab und wetterte gegen die Patrioten – das Lager der Franzosenfreunde. Sie flüsterte böse Gerüchte durch manch einen Türspalt: Der Mann, der die Nidwaldner zum Schwur auf die Helvetische Republik bewegen sollte, habe an einem Fastentag «tüchtig Braten gegessen». Gezielt schürte sie den Hass auf diesen armen Tropf, der dann prompt von den Vaterländern gefangen genommen wurde.
Das ging der helvetischen Zentralregierung zu weit. Zeit, dieses störrische, zwischen den Bergen eingeklemmte Bauernvolk zur Vernunft zu bringen.
Am 9. September kamen die französischen Bataillone über die Berge. 1'200 Nidwaldner stellten sich ihnen mit den geschmuggelten Waffen von Veronika Gut entgegen. Sie hatten nicht den Hauch einer Chance. Nach wenigen Stunden schon war der Kampf vorüber. Auf dem rauchenden Schlachtfeld lagen etwa 170 Nidwaldner, darunter Veronika Guts Sohn Leonz. 350 Frauen, Kinder und Greise fielen den französischen Raubzügen zum Opfer. Die Spichermatte, das Nest des Widerstands, brannte bis auf die Grundmauern nieder.
Veronika Gut wurde verhaftet. Ihr wurde ein Schild um den Hals gehängt, auf dem zu lesen war: «Ruhestörende Lügnerin». Wahrscheinlich trug es dieses bockige Weibsbild wie eine Auszeichnung. 20 Meter von der Brandstelle baute sie ihr neues Haus auf und begann sofort von Neuem mit der niederträchtigen Agitation. Nach und nach verschwanden die Patrioten, sie packten ihre Frauen und Kinder auf die Heuwaagen und fuhren weg aus Nidwalden.
Am 11. September 1801 mussten die Franzosen schon wieder einrücken. Diesmal kamen sie mit 600 Soldaten, um den Nidwaldner Vaterländern klar zu machen, dass ihre aussenpolitischen Bemühungen, Hilfe von Österreich, Russland, Preussen, Spanien und Grossbritannien für den Kampf gegen Napoleon zu bekommen, nicht weiter geduldet wurden.
In der Nacht vor dem Einmarsch floh Veronika mit ihren vier Töchtern. Sie kämpften sich durch den peitschenden Regen, und als sie den unruhigen Fluss Engelberger Aa überqueren wollten, brach der Steg ein. Veronika entstieg den Fluten ohne ihre vier Mädchen.
Die Franzosen aber kamen in dieser Nacht nicht, um zu morden und zu brennen, so wie es Veronika Gut vor ihrer überstürzten Flucht zugetragen wurde. Sie kamen erst am nächsten Morgen, friedlich. Ihre vier Töchter waren umsonst gestorben.
Noch ein letztes Mal bäumte sich die Unzerstörbare auf. Als die Kantone nach Napoleons Niederlage allmählich wieder zu ihrem alten Bund der Eidgenossen zurückkehrten, propagierte sie die absolute Isolation Nidwaldens. Ihre Heimat sollte nicht einmal mehr mit den Eidgenossen verbunden sein. Aber selbst ihre «Stäckli-Buebe», eine handvoll muskulöser Jünglinge, konnten mit ihren Stangen die erhobenen Hände für die Annahme der Bundesverfassung nicht mehr niederprügeln.
Vergrämt und vereinsamt zog die Bauersfrau an die Nägeligasse. Das Nachbarsmädchen erinnert sich noch gut an die verhärmte Alte, die das Leben kaum mehr ertrug:
Am 28. April 1829 starb Veronika Gut. Und vielleicht tat sie das sogar aus reinem Trotz, nur um dann ihrem Enkel Melchior Joller – dem Sohn ihres einzig überlebenden Kindes – als schauerliche weisse Gestalt zu erscheinen, im Haus Stühle herumzuwirbeln und ihn mit ihren «spitzen, kalten Hundekrallen» langsam in den Tod zu streicheln.
Denn er hatte sich auf die falsche Seite geschlagen. Auf die Seite der Liberalen.
Hermann Beyeler wollte auf der Spichermatt den «Kristall-Hybrid-Stans-Nord» hinpflanzen. Ein 75 Meter hohes Luxushotel mit Läden und Wohnungen. Ein neues Wahrzeichen für Stans, in dessen gläserne und stählerne Mitte das Joller Haus hineingebaut werden sollte. Mitsamt Veronika Guts Geist, der dort mit seinem Gepoltere den Spuktourismus ordentlich ankurbeln sollte. Doch in Stans wollte man von dem Projekt nichts wissen. Zu massig. Verträgt sich ganz und gar nicht mit der Landschaft.
Also hat man sich auf eine Überbauung mit 40 Wohnungen geeinigt. Die Bagger kamen und rissen das Joller-Haus ein.
Was bleibt, sind ein paar Butzenscheiben, aus denen einst Äpfel und Steine flogen, und die jetzt irgendwo auf Ebay feil geboten werden. Oder sich vielleicht schon im Besitze eines Geister-Verliebten befinden, der sich ein letztes Relikt dieses wundersamen Spukes sichern wollte. Wo die obdachlos gewordene Seele der Veronika Gut abgeblieben ist, weiss allerdings niemand.
Quellen: Tagebuchaufzeichnungen von Melchior Joller: Darstellung selbsterlebter mystischer Erscheinungen (1863), Hans Peter Roth, Niklaus Maurer: Orte des Grauens in der Schweiz, Lukas Vogel: Schreckliche Gesellschaft. Das Spukhaus zu Stans und das Leben von Melchior Joller, Alex Capus: 13 wahre Geschichten, Tagesanzeiger, NZZ
Die gute Frau wäre heute mit Sicherheit eine überzeugte Blick-Leserin.