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Ein «Preusse» als General, ein tiefer Röstigraben und der erste Generalstreik

Infanteristen werden mit Saurer-Lastwagen in den Jura gefahren.Bild: PHOTOPRESS-ARCHIV
Die Schweiz im Ersten Weltkrieg

Ein «Preusse» als General, ein tiefer Röstigraben und der erste Generalstreik

Die Schweiz blieb im Ersten Weltkrieg verschont. Im Inland aber taten sich tiefe Gräben auf – zwischen Deutschschweiz und Romandie, Soldaten und Offizieren, Arbeitern und Bürgertum.
24.08.2014, 11:4025.08.2014, 10:34
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Im Zweiten Weltkrieg herrschte in der Schweiz angesichts der Bedrohung durch den Nationalsozialismus ein starker Zusammenhalt. Ein Vierteljahrhundert zuvor sah es ganz anders aus: Der Erste Weltkrieg setzte das Land einer Zerreissprobe aus. Lange wurde dieses Kapitel der Schweizer Geschichte verdrängt, dabei wurden in der Zeit von 1914 bis 1918 wichtige Weichen für die Zukunft gestellt. Eine Auslegeordnung:

Die Grenzbesetzung

Am 31. Juli 1914, drei Tage nach Kriegsausbruch, ordnete der Bundesrat die erste allgemeine Mobilmachung in der Geschichte der Schweiz an. Im August erreichten die Bestände einen absoluten Höchststand von 238'000 Mann und 50'000 Pferden. Nachdem die erste Kriegsgefahr gebannt war, wurden sie rasch abgebaut. Trotzdem mussten die Wehrmänner während der Kriegs immer wieder zur «Grenzbesetzung» einrücken.

Soldaten bei einer Schiessübung in Kleinhüningen bei Basel.
Soldaten bei einer Schiessübung in Kleinhüningen bei Basel.Bild: PHOTOPRESS-ARCHIV

Die häufig überlangen Dienstperioden waren für die Soldaten eine enorme Belastung. Arbeiter bangten um ihre Stelle, Bauern um die Ernte. Mit dem Sold von 80 Rappen pro Tag konnten sie ihre Familie nicht durchbringen, und einen Erwerbsersatz gab es noch nicht. Der Alltag war geprägt durch langweilige Wachtdienste und schlechte Unterkünfte, andererseits durch strengen Drill und einen rigiden Führungsstil vieler Offiziere.

Eine Soldatenstube im Ersten Weltkrieg.Bild: schweizerisches bundesarchiv

Dadurch ergab sich in der Truppe eine immer brisantere Grundstimmung. Die Militärjustiz musste über mehr als 21'000 Fälle urteilen. Auch harmlose Delikte wie ein «Überhöckeln» im Ausgang konnten hart bestraft werden. Bis Kriegsende entstanden aber auch rund 1000 Soldatenstuben, die eine günstige und alkoholfreie Alternative zu den Wirtshäusern und der oft als schlecht empfundenen Armeeverpflegung anboten.

Die Schweiz und der Grosse Krieg
Das 100-jährige Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs wird in der Schweiz mit diversen Ausstellungen begangen. In Bern widmen sich das Museum für Kommunikation und die Landesbibliothek unter dem Titel «Im Feuer der Propaganda» ab 21. August dem Propagandakrieg in der Schweiz. Die grosse Wanderausstellung «14/18 – Die Schweiz und der Grosse Krieg» wird ab 23. August im Historischen Museum Basel und ab 28. August im Landesmuseum Zürich gezeigt. BIs 2017 folgen weitere Städte. Das gleichnamige Buch zur Ausstellung, aus dem die Informationen für diesen Text stammen, ist im Verlag Hier+Jetzt erschienen.

Der General

Am 3. August 1914 wählte die Bundesversammlung den General. Der Favorit des Bundesrats war der Zürcher Ulrich Wille, im Parlament jedoch zeichnete sich eine klare Mehrheit ab für Theophil Sprecher von Bernegg, einen aristokratischen Bündner. Wille stiess bei Linken und Welschen auf Ablehnung. Als Oberinstruktor hatte er die behäbige Milizarmee mit preussischem Drill auf Vordermann gebracht und sich den Ruf eines «Soldatenschinders» eingehandelt. Ausserdem war Wille ein Bewunderer des deutschen Kaiserreichs. Er wurde in Hamburg geboren und sprach privat nur Hochdeutsch. Dialekt beherrschte er schlecht, Französisch kaum.

General Ulrich Wille war eine polarisierende Figur.
General Ulrich Wille war eine polarisierende Figur.Bild: PHOTOPRESS-ARCHIV

Die Wahl verkam zur Intrige. Auf Betreiben von Bundespräsident Arthur Hoffmann, der ebenso deutschfreundlich war wie Wille, wurde sie mehrfach verschoben. Mit seinen Kollegen versuchte der freisinnige St.Galler, die Fraktionen weichzuklopfen. Wille seinerseits begab sich in die Berner Wohnung seines Rivalen Sprecher, der bereits die Galauniform angezogen hatte und auf seine Vereidigung wartete. Mit Bitten und Drohungen drängte Wille ihn zum Verzicht. Um den Frieden zu wahren, gab Sprecher nach und erhielt den Posten des Generalstabschefs. Ulrich Wille wurde mit 122 Stimmen zum General gewählt.

Rivalen bei der Generalswahl: Ulrich Wille (r.) und Theophil Sprecher von Bernegg bei einem Manöver.Bild: schweizerisches bundesarchiv

Als Oberbefehlshaber blieb der Zürcher eine umstrittene Figur. Bei der Truppe war er unbeliebt. Er forderte eine permanente mentale Achtungsstellung des Soldaten und einen permanenten Befehlshabitus des Offiziers. Ausserdem wollte er die Schweiz an der Seite Deutschlands in den Krieg führen. Im festen Glauben an den deutschen Sieg schrieb er Mitte 1915 sogenannte Säbelrasselbriefe an die Regierung. Auf Willes Betreiben wurde die Armee im Landesstreik 1918 gegen die Arbeiter eingesetzt. Zeitweise soll der Bundesrat erwogen haben, den General wegen «Senilität» abzusetzen.

Die Spaltung

Der Krieg entzweite die Sprachregionen der Schweiz wie kein Ereignis davor oder danach. Während die Westschweiz auf Seiten Frankreichs stand, hielt die Deutschschweiz dem nördlichen Nachbarn die Treue. Die Spannungen wurden durch Scharfmacher noch angeheizt, unter ihnen Christoph Blochers Grossvater Eduard, Mitbegründer der germanophilen Verlagskooperative «Stimmen im Sturm». Für den Zürcher Pfarrer und seine Freunde waren die Romands keine echten Schweizer, sondern nur «historische Gäste auf Schweizer Boden».

Satirische Postkarte aus der Romandie: Der Bundesrat macht einen Bückling vor dem deutschen Kaiser Wilhelm II, zum Entsetzen von Wilhelm Tell.Bild: Nationalbibliothek bern

Im Dezember 1914 hielt der Schriftsteller Carl Spitteler vor der Neuen Helvetischen Gesellschaft in Zürich seine berühmte Rede «Unser Schweizer Standpunkt». Er warnte die Deutschschweizer vor übertriebener Deutschlandliebe und forderte sie zu Mässigung gegenüber den Westschweizern auf. Diese seien «mehr als Nachbarn, nämlich unsere Brüder». Spittelers Rede wurde nachträglich hoch gelobt, nicht zuletzt weil der Baselbieter 1919 als bis heute einziger gebürtiger Schweizer den Literaturnobelpreis erhielt. Damals aber fiel sie auf steinigen Boden.

Die Skandale 

Mehrfach drohte entlang des «Röstigrabens» die Eskalation, vor allem nach der Obersten-Affäre: 1915 hatten zwei Generalstabsoffiziere vertrauliche Unterlagen an Deutschland und Österreich-Ungarn weitergeleitet und waren dafür nur sehr milde bestraft worden. Die Westschweiz reagierte empört, erst recht als herauskam, dass die Armeeführung die militärische Besetzung von Städten in der Romandie für den Fall von Unruhen vorbereitet hatte.

Friedrich von Wattenwyl, Kommandant des Nachrichtendienstes im Generalstab und einer der Protagonisten in der Obersten-Affäre.
Friedrich von Wattenwyl, Kommandant des Nachrichtendienstes im Generalstab und einer der Protagonisten in der Obersten-Affäre.Bild: schweizerisches bundesarchiv

Im Juni 1917 folgte ein weiterer Eklat: Aussenminister Arthur Hoffmann versuchte zusammen mit dem Berner SP-Nationalrat Robert Grimm einen Separatfrieden zwischen Deutschland und Russland zu vermitteln. Die Franzosen waren stocksauer und brachten die Affäre ans Licht, Hoffmann musste zurücktreten. Als Nachfolger wurde der Genfer Liberale Gustave Ador gewählt, was wesentlich dazu beitrug, die Spannungen zwischen den Landesteilen zu entschärfen. Ein Nebeneffekt war die Entstehung der jurassischen Separatistenbewegung, die sich für die Gründung eines Kantons Jura einsetzte. Es sollte bis 1979 dauern, ehe dieser Traum Wirklichkeit wurde.

Der Bundesstaat

Der Bundesrat verfügte traditionell über wenig Macht. Mit Beginn des Krieges änderte sich dies: Das Parlament übertrug der Landesregierung weitreichende politische Kompetenzen, von denen sie in den kommenden vier Jahren ausgiebigen Gebrauch machen sollte. Dieser Zustand wurde als «Vollmachtenregime» bezeichnet. Je länger der Krieg dauerte und je stärker die Schweiz durch seine Auswirkungen in Mitleidenschaft gezogen wurde, umso intensiver griffen Bundesrat und Departemente in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur des Landes ein.

Sechs der sieben Bundesräte bei einem Defilee in Bern.Bild: schweizerisches bundesarchiv

Nach Einschätzung des Staatsrechtlers Alfred Kölz bedeutete dies für den Bundesstaat «eine noch nie da gewesene Konzentration der Macht beim Bundesrat und der Verwaltung». Dies schlug sich in den Finanzen nieder. Die jährlichen Ausgaben stiegen bis 1918 von 120 auf fast 550 Millionen Franken. Die Zahl der Angestellten der Bundesverwaltung und von Staatsunternehmen (ohne SBB und PTT) nahm von knapp 8000 auf 11'000 zu. Dies wurde nach Kriegsende revidiert, doch der Ausbau des Bundesstaats wurde nie vollständig rückgängig gemacht.

Die «Überfremdung»

In den Jahrzehnten vor dem Krieg kam es zu einem ersten Globalisierungsschub. In Europa herrschte faktisch der freie Personenverkehr. Man brauchte nicht einmal einen Pass, wenn man durch den Kontinent reiste. Die Schweiz als stark industrialisiertes Land profitierte davon: Der Ausländeranteil stieg zwischen 1850 und 1914 von drei auf 15 Prozent. In der Stadt Zürich stellten die Ausländer einen Drittel der Einwohnerschaft. Zum grossen Teil waren es deutsche Staatsbürger.

Der Bau der Alpentunnel – hier am Albula – lockte viele Arbeiter vor allem aus Italien in die Schweiz.
Der Bau der Alpentunnel – hier am Albula – lockte viele Arbeiter vor allem aus Italien in die Schweiz.Bild: KEYSTONE

Diese Entwicklung blieb nicht ohne Widerspruch: Bereits um die Jahrhundertwende wurde die zunehmende «Überfremdung» der Schweiz beklagt. Der Krieg führte zu einem fundamentalen Wandel im Umgang mit Migranten. Nachdem Zehntausende in ihre Heimat zurückgekehrt waren, schränkte der Bundesrat den Personenverkehr stark ein. Unerwünscht waren besonders Deserteure und «Refraktäre» – Stellungspflichtige, die sich vor der Einberufung drückten. Auch antisemitische Angriffe vorab gegen «Ostjuden» wurden salonfähig.

Schlafsaal der französischen Internierten in der Armeesanitätsanstalt in Luzern.Bild: schweizerisches Bundesarchiv

Immerhin nahm die Schweiz bis 1918 auch mehr als 67'000 verwundete und gefangene Soldaten von allen Kriegsparteien auf. Sie konnte damit ihre Neutralität legitimieren und die ausbleibenden Touristen zumindest teilweise ersetzen, denn die Internierten wurden überwiegend in Hotels untergebracht. Insgesamt aber blieb die restriktive Zuwanderungspolitik auch nach dem Krieg bestehen. Der Ausländeranteil sank bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs auf fünf Prozent. Die Folgen des damaligen Migrationsregimes beschäftigen die Schweiz bis heute.

Die soziale Not

Der Erste Weltkrieg war auch ein Wirtschaftskrieg. Die Schweiz war davon ebenfalls betroffen. Ein grosses Problem war die Lebensmittelversorgung, denn kaum ein Land war in dieser Hinsicht so schlecht auf den Krieg vorbereitet wie die Schweiz. Zwar arbeitete ein Drittel der Bevölkerung in der Landwirtschaft, dennoch hatte sich das Land als Folge der Globalisierung von Importen abhängig gemacht. 85 Prozent des Bedarfs an Brotgetreide wurden eingeführt.

Helvetia geht mit dem Besen gegen ausländische Kriegsgewinnler vor.Bild: nationalbibliothek bern

Als die USA als Hauptlieferant 1917 in den Krieg eintraten, schränkten sie die Getreideexporte stark ein. 1918 konnte die Schweiz nur noch ein Drittel der Vorkriegsmenge an Lebensmitteln einführen. Die Preise verdoppelten sich, die Reallöhne dagegen fielen um bis zu 30 Prozent. Darunter litten in erster Linie die Industriearbeiter, während die Bauern profitierten. Bei Kriegsende bezog ein Sechstel der Bevölkerung Notstandsunterstützung. In den grossen Städten war es jeder Vierte. Der Unmut über Kriegsgewinnler, Schieber, Wucherer und Spekulanten nahm stark zu.

Der Landesstreik

Wut und Not unter der Arbeiterschaft führten im November 1918 zum ersten und bis heute einzigen Generalstreik in der Geschichte der Schweiz. Organisiert wurde er vom Oltener Aktionskomitee (OAK) unter Führung von Robert Grimm. Das Bürgertum witterte revolutionäre Umtriebe wie im Ausland, General Ulrich Wille drängte auf den Einsatz der Armee.

Aufrufe zum Landesstreik.
Aufrufe zum Landesstreik.Bild: KEYSTONE

Dabei waren die Forderungen alles andere als revolutionär: Der Bundesrat sollte nach dem «vorhandenen Volkswillen» umgebildet, das Frauenstimmrecht und eine Alters- und Invalidenversicherung eingeführt werden. Weiter forderte die Streikleitung die 48-Stunden-Woche sowie die «Tilgung aller Staatsschulden durch die Besitzenden».

Insgesamt beteiligte sich weniger als die Hälfte der Arbeiterschaft am Landesstreik, vor allem in der Romandie und im Tessin wurde er schlecht befolgt. Dennoch kam es vereinzelt zur Eskalation: In Zürich löste sich bei einer Demonstration ein Schuss und tötete einen Soldaten. Zu den schwersten Zusammenstössen kam es in Grenchen: Drei junge Uhrmacher kamen ums Leben. Am 14. November beschloss das OAK den Abbruch des Streiks.

Streikende Arbeiter in Bellinzona.Bild: KEYSTONE

Zahlreiche Streikteilnehmer wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt oder verloren ihre Arbeit. Auf längere Sicht aber war der Landesstreik ein Erfolg: Bereits 1919 wurden der Nationalrat nach dem Proporzverfahren gewählt und die 48-Stunden-Woche eingeführt. 1937 folgte der erste Gesamtarbeitsvertrag, der den Grundstein für den Arbeitsfrieden legte, und 1947 das AHV-Gesetz. Nur beim Frauenstimmrecht zeigten sich die Männer renitent: Es wurde erst 1971 eingeführt.

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Diese Beispiele zeigen, dass die Schweiz bereit war, aus den Fehlern während des Grossen Kriegs zu lernen. Dies zeigte sich 25 Jahre später bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Bei der Wahl des Generals kam mit dem Waadtländer Henri Guisan ein Konsenskandidat zum Zug, der nicht polarisierte, sondern zur im ganzen Land verehrten Integrationsfigur wurde. Als Ausgleich für den Einkommensverlust der Soldaten wurde die Erwerbsersatzordnung eingeführt. Die Landesversorgung und die Verteilung der Lebensmittel verliefen ebenfalls besser und gerechter.

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