Nach einem Jahr NSA-Skandal hat der «Spiegel» ein frustrierendes Fazit gezogen: Selten hätten derart weitreichende Enthüllungen so wenig konkrete Konsequenzen gehabt. Teilen Sie diese Ansicht?
Hans-Christian Ströbele: Nein. Edward Snowden und seine Enthüllungen haben schon jetzt unendlich viel bewegt, nicht nur in Deutschland oder Europa, sondern auf der ganzen Welt. Auch in den USA. Ich kenne kein Thema, das weltweit so intensiv diskutiert wird und mit dem so viel Aufmerksamkeit erreicht worden ist.
Eine breite Empörung in der Bevölkerung findet aber nicht statt.
Diese Auffassung teile ich auch nicht. Umfragen in Deutschland belegen, dass ein überwiegender Teil der Bevölkerung sehr wohl mitdenkt, auch empört ist, sogar Snowden hier in Deutschland aufnehmen würde. Über 80 Prozent sind der Auffassung, dass er richtig gehandelt hat. Sicherlich gibt es keinen Protest, wie er sonst gegen eine Kriegsgefahr oder für ökologische Themen auf die Strasse getragen wurde! Das heisst aber nicht, dass die Bevölkerung nicht beunruhigt ist. Was es gibt, sind viele phantasievolle Aktivitäten.
Ist das Thema für die Menschen zu abstrakt, um sie auf die Strasse zu treiben?
Nein, ich stelle eine Veränderung im Bewusstsein vieler Menschen fest, die mir schreiben oder mit mir reden. Jeder hat in seiner Umgebung schon Sprüche gehört wie «Jetzt hört die NSA wieder am Telefon mit». Die Botschaft ist angekommen, dass man immer und überall gegenwärtig sein muss, dass man beobachtet wird, dass die persönlichen Kommunikationsdaten aufgenommen, gespeichert und ausgewertet werden. Das hat schon zu einer Art Schere im Hinterkopf vieler Menschen geführt.
Sie denken, dass die Leute in ihrem Kommunikations-Verhalten vorsichtiger geworden sind?
Ich bekomme immer wieder Zuschriften mit der Bitte um Empfehlung von Sicherheits-Software, was man sonst noch machen kann, wie man sich verhalten kann, wie man mit dem iPhone umgehen soll. Das zeigt, dass die Leute nach Möglichkeiten suchen, sich vor dieser Spionage zu schützen. Es zeigt sich zudem, dass kleinere Server Zukunft haben, weil es sich herumgesprochen hat, dass es für zentrale Geheimdienste wie die NSA einfacher ist, bei grossen Servern die Massendaten abzuschöpfen.
Sie bieten auf Ihrer Website eine Verschlüsselung für Mails an. Was empfehlen Sie den Leuten, wie sie sich verhalten sollen?
Ich persönlich nutze die Software des Bundestags und gehe davon aus, dass sie weitgehend geschützt ist. Ich setze mich auch sehr dafür ein, dass Firmen, die Sicherheits-Software anbieten und in den USA deshalb verfolgt werden, sich in Deutschland ansiedeln. Es gibt Rückmeldungen, dass dies bereits geschehen ist. Bei einer dieser Firmen hätte auch Edward Snowden seine Daten verschlüsselt.
Es findet eine Entwicklung statt, um sich von den USA unabhängiger zu machen?
Es gibt einerseits die individuelle Bemühung, sich und seine Daten zu schützen. Als zweiten Aspekt gibt es vom US-Kongress über den Deutschen Bundestag bis zur Europäischen Union Bestrebungen, die NSA und andere Geheimdienste, aber auch grosse Firmen wie Google und Facebook per Gesetz dazu zu zwingen, sehr viel eingeschränkter mit der Privatsphäre und der privaten Kommunikation der Bevölkerung umzugehen. Es besteht eine wachsende Tendenz, nur noch Daten ausspionieren zu dürfen, wenn ein konkreter Verdacht besteht, und die anlasslose Massenausspähung, wie sie offenbar von der NSA praktiziert wird, nicht mehr zuzulassen.
Trotzdem sagen immer noch viele Leute, die Bedrohung durch den Terrorismus rechtfertige eine solche Überwachung.
Die NSA und andere Geheimdienste, die das immer wieder behaupten, sind bislang jeden Beleg und jeden Beweis schuldig geblieben. Vor der letzten Bundestagswahl behauptete der damalige Innenminister, aufgrund von Informationen aus solcher Massenüberwachung seien sieben Anschläge in Deutschland verhindert worden. Wir haben im Bundestag nach Beispielen gefragt, und es wurden immer weniger. Erst sollten es sieben sein, dann nur noch fünf, noch drei, und nachher blieb noch einer übrig, der mehrere Fälle betroffen haben soll. In den USA hat die Untersuchung einer Universität ergeben, dass es auch dort solche Beispiele nicht gibt.
Man könnte auch etwas provokativ behaupten, im Vergleich mit China oder Russland sei die NSA harmlos.
Das ist eine völlig unbewiesene Behauptung. Ich gehe davon aus, dass die Kapazitäten und das Knowhow, das in den USA mit 80 Milliarden Dollar subventioniert worden ist, keinen Vergleich in anderen Ländern finden. Ich übersehe natürlich nicht, dass China, Russland und andere Länder auch nach Kräften Spionage betreiben, ebenfalls bei persönlichen Kommunikationsdaten. Aber ich denke, dass die Dimension und die Vollständigkeit der Abschöpfung aller Daten, ihre Speicherung und Auswertung in den USA, insbesondere bei der NSA, viel weiter fortgeschritten ist als in anderen Ländern.
Sie haben Edward Snowden im letzten Herbst in Moskau besucht. Stehen Sie weiterhin in Kontakt mit ihm?
Ich kann mit ihm Kontakt haben, wenn ich das will.
Wann haben Sie das letzte Mal von ihm gehört?
Das sage ich nicht.
Wohl auch nicht, wie sie miteinander kommunizieren.
Nee.
Snowden scheint nicht sehr glücklich zu sein mit seinem Exil in Moskau.
Er hat mir gesagt, er möchte in ein Land mit rechtsstaatlichen demokratischen Verhältnissen. Als Beispiele nannte er Frankreich und Deutschland, weil er nicht davon ausgehen kann, dass er in naher Zukunft in die USA zurückkehren kann. Aber er hat auch keinen Hehl daraus gemacht, dass er am Allerliebsten in seine Heimat zurückgehen und vor dem US-Kongress aussagen würde, und nicht vor dem Bundestag. Er ist aber bereit, vor einem Untersuchungsausschuss des Bundestags und auch vor der deutschen Justiz auszusagen.
Der NSA-Untersuchungsausschuss will Snowden anhören.
Ein Datum ist nicht genannt. Aber das ist in der Tat ein wichtiger Schritt. Das war ein grosser Erfolg. Der Beschluss ist einstimmig gefasst worden. Der ganze Bundestag steht also dahinter. Noch vor einem Vierteljahr sah es ganz anders aus. Es gibt noch Diskussionen, ob Snowden hier in Deutschland befragt werden müsse. Die Strafprozessordnung sieht dies so vor, und auch nur in Deutschland kann er uneingeschränkt aussagen. Wie das ausgeht, wissen wir noch nicht, aber Snowden hat immer wieder über seinen Anwalt mitteilen lassen, dass eine umfassende Aussage in Moskau nicht möglich ist.
Man wirft Ihnen vor, dass es Ihnen nur darum gehe, Snowden nach Deutschland zu holen.
Ich mache keinen Hehl draus, dass ich Snowden als wichtigsten Zeugen für diesen Untersuchungsausschuss betrachte. Keiner weiss so viel über den NSA-Skandal wie er, aber das liegt ja auf der Hand. Hinzu kommt: Wir alle, Deutschland, Europa, die USA, ja die ganze Welt, sollten ihm für die Aufdeckung des grössten Spionageskandals der Weltgeschichte dankbar sein und ihm in Deutschland einen sicheren Aufenthalt bieten.
Das deutsche Justizministerium will die Kraftprobe mit den USA aber nicht wagen.
Die Bundesregierung weigert sich, die Voraussetzungen zu schaffen für eine Befragung von Snowden in Deutschland. Im Grundgesetz steht aber, dass die Regierung dem Untersuchungsausschuss Amtshilfe leisten muss. Sie müsste einen derart wichtigen Zeugen dem Ausschuss zur Verfügung stellen. Wenn sie das nicht tut, werden wir das Gericht anrufen.
Konkret heisst das, Sie gehen nach Karlsruhe.
Ja, wir werden eine Klage beim Bundesverfassungsgericht einreichen. Wir lassen derzeit die rechtlichen Voraussetzungen abklären. Wir haben von Anfang an angekündigt, dass wir den Zeugen Snowden für so wichtig halten, dass wir notfalls das Verfassungsgericht anrufen werden. Es soll feststellen, dass das Informationsrecht und die Kontrollpflicht des Parlaments so hoch anzusiedeln sind, dass die Bundesregierung aussenpolitische Rücksichten zurückstellen muss.
Soll die Schweiz Edward Snowden aufnehmen?
Das wäre auch gut. Ich habe bereits mit einem Parlamentarier aus der Schweiz darüber geredet, wie auch mit Parlamentariern aus anderen europäischen Ländern. Italien etwa und Österreich. Dort besteht auch Interesse. Sicherlich könnte auch die Schweiz ein Zufluchtsland sein.
Der Schweizer Parlamentarier war vermutlich SP-Nationalrat Carlo Sommaruga aus Genf?
(lacht) Das sage ich Ihnen nicht.
Der Nachrichtendienst des Bundes dürfte auch eng mit der NSA zusammenarbeiten.
Das kann ich nicht beurteilen. Ich wüsste nicht, warum ausgerechnet die Schweiz ausgenommen werden sollte.
Die Schweiz ist erheblich kleiner als Deutschland und hat eigentlich schon genug Probleme mit den USA, etwa beim Bankgeheimnis.
Das müssen die Schweizer selbst entscheiden. Ich will mich da nicht einmischen, ich sage nur, die Schweiz kommt ebenso in Betracht wie andere europäische Staaten. Vielleicht können sich die europäischen Staaten auch zusammentun und sagen, wir haben gemeinsam den Mut und suchen jetzt ein Land, das Snowden aufnimmt. Ich setze mich sehr dafür ein. In Frankreich läuft eine Petition von vielen Unterstützern, die Staatspräsident François Hollande auffordert, Snowden Asyl zu gewähren.
Wie viele Dokumente besitzt Snowden noch, die nicht veröffentlicht wurden?
Er hat überhaupt keine Dokumente in seinem Besitz. Er hat alle Dokumente vor seiner Abreise aus Hongkong an Journalisten abgegeben. Sie sind jetzt an verschiedenen Orten.
Laut Medienberichten arbeiten Anwälte in den USA daran, dass Snowden zurückkehren kann. Glauben Sie, dass er dort ein faires Verfahren erwarten kann?
Bisher zweifeln Anwälte – und er selber – daran, sonst wäre er wahrscheinlich bereits zurückgekehrt. Aber es finden seit langem Gespräche statt, das ist auch bekannt. Ein renommiertes und hervorragendes Anwaltsbüro in New York ist damit betraut.
Wenn es zu einem Deal mit den US-Behörden kommt, besteht dann nicht die Gefahr, dass die Enthüllungen aufhören und der Skandal nicht vollständig aufgedeckt wird?
Das glaube ich nicht, kann ich aber nicht beurteilen, schon gar nicht von Deutschland aus. Diese Entscheidungen trifft Snowden gemeinsam mit seinen Rechtsanwälten. Er hat Anwälte in New York, in Deutschland, auch einen in Russland und wird bestens beraten.
Man sieht in den USA, dass die jüngere Generation Snowden wesentlich positiver beurteilt als ältere Leute.
Das ist in Deutschland und anderen Ländern ähnlich. Die junge, IT-affine Generation, die ihre persönliche Kommunikation sehr viel mehr über Mobilgeräte und neue Medien abwickelt, ist besonders sensibel für diesen Spionageskandal. Ich bin davon überzeugt, dass Edward Snowden in fünf oder zehn Jahren zu den grössten Enthüllern weltweit gezählt werden wird. Aber er ist jetzt in einer ganz schwierigen Situation. Wir müssen alles tun, um ihm da heraus zu helfen und ihm ein normales Leben und eine normale Arbeit – mit seinen Enthüllungen – zu ermöglichen.