Der TV zeigt in Nahaufnahme einen Hünen mit Älplerbart und hochrotem Kopf. «Herr Bundesrat, sind ihr mit Blindheit gschlage?», schreit er den konsternierten Adolf Ogi an, «dass mir müend is Usland us, wo all im Dräck schtönd bis is Grind ufe, Schulde übere Grind ufe! Wenn er gäre Chrieg wend, denn mached mit! E Schwizer wird nid Asylant, er verblüetet im äigene Land!»
Mario Padruzzi* (26) sitzt in seinem FCZ-Fanshirt vor dem TV, reibt die Hände an seiner Cola und krümmt sich vor Lachen. «Wo haben sie denn diesen Typen ausgegraben?!» «Das ist nur wegen diese Blocher», regt sich sein Vater Toni Padruzzi (53) auf, «alle kriege roten Kopf wegen dem.» «Alle kriegen einen roten Kopf wegen ihm, Papa», korrigiert Mario.
Es ist November 1992, in wenigen Tagen entscheidet die Schweiz über den Beitritt in den Europäischen Wirtschaftsraum EWR, und die Abstimmungssendung des Schweizer Fernsehens aus dem Schwyzer Bundesbriefmuseum läuft gerade aus dem Ruder. Der Mann, der Adolf Ogi anschreit, ist der bekannte Schwyzer Volksmusiker Dominik Marty. Nach der Sendung wird er zwei Tage lang sein Telefon abstellen müssen und Auftritte verlieren. Doch was Marty brüllt, denken viele Schweizer in diesen Tagen, wenn auch weniger drastisch.
Die Padruzzis aus Dietlikon in Zürich nicht. Toni, Bauarbeiter, und zeitlebens Gewerkschaftsmitglied, stimmt Ja, weil es die Gewerkschaftsführung so empfohlen hat, auch wenn manche in der Basis brummten, der Blocher habe nicht Unrecht. Mario, Maschinenbauer, hingegen ist nicht in der Gewerkschaft. Er wird für den EWR stimmen, weil alle betonen, wie wichtig er für die Wirtschaft ist. Und weil er spürt, dass sich die Welt gerade im Höllentempo dreht. Vor drei Jahren hat er wie viele Junge für die Abschaffung der Armee gestimmt, weil ihn die WKs angurken. Gegen wen soll man denn kämpfen? Die Sowjetunion gibt es seit einem Jahr nicht mehr. Der Kalte Krieg ist vorbei, alle Türen stehen offen, ein neues Zeitalter bricht an.
Wenige Tage davor sitzt Familie Hirt im luzernischen Sursee vor dem Fernsehen. Bundesrat Adolf Ogi, der zusammen mit Kollege Arnold Koller durchs Land zieht und die Schweizer für den EWR begeistern will, ist Gast in einer Diskussionssendung. «Das ist ein Eintritt in eine supranationale Gemeinschaft», erklärt Ogi dem Moderator einen allfälligen Beitritt in die Europäische Gemeinschaft (EG). «Das wäre der Ernstfall, wenn man so will, während der EWR eine Art Trainingslager ist.» Regula Hirt (24), Krankenschwester, schüttelt irritiert den Kopf. «Ja, was denn jetzt, du Schlaumeier?», ruft ihre Mutter Elsi (52) und klopft an die Eichhof-Bierflasche, «vorher habt ihr immer gesagt, wir gehen nicht in die EG. Da kommt ja keine Sau mehr nach.» «Ich glaube, die wissen selbst nicht ganz, was sie wollen», meint Regula und nimmt einen Schluck aus ihrer Flasche. Ihre Mutter seufzt. «Ich sag dir was, Regula; wenn wir jetzt Ja stimmen, dann sind wir drin. Ob es uns gefällt oder nicht. Dann gibt's kein zurück.»
Regula, die sich vor fünf Jahren für die Rothenturm-Initiative eingesetzt hat, um ein Moor vor einem neuen Waffenplatz zu schützen, denkt nach. Vor kurzem hat sie das EWR-Buch von Rudolf Strahm in die Finger gekriegt, das in Naturschützerkreisen die Runde macht und vor 40-Tönnern auf den Alpenstrassen und den Ramschwaren aus der EU warnt. Regula beschliesst, Nein zu stimmen.
Herbst 1992. Die Schweiz läuft im Krisenmodus. Schlag auf Schlag ist es passiert. Kaum hatte man im Sommer 1989 noch den 60. Jahrestag der Mobilmachung gefeiert, stimmten im November ein Drittel der Schweizer für die Abschaffung der Armee. Die Berliner Mauer fiel. Im Fichenskandal tauchen die Akten von zehntausenden Schweizern auf, die vom Geheimdienst bespitzelt wurden. Die 700-Jahre-Feiern der Eidgenossenschaft 1991 wurden zum Desaster. Und jetzt will auch noch diese Europäische Gemeinschaft was von der Schweiz.
Bis Mitte der 80er Jahre ist die nach dem Krieg entstandene EG ein gemütlicher Handelsclub westeuropäischer Staaten. Benedikt von Tscharner, der 1987 als Chef der Schweizer Mission nach Brüssel kommt, erinnert sich an eine familiäre Stimmung unter den Diplomaten. Man arbeitet und feiert zusammen, als Götti wählt man oft einen Diplomaten eines anderen Landes. «C'était notre monde», beschreibt Tscharner die Stimmung.
1985 übernimmt der ehrgeizige Franzose Jacques Delors das Kommissionspräsidium. Von da an geht es rund. In einem Weissbuch hat Delors skizziert, wie er die nationalen Volkswirtschaften in einen europäischen Binnenmarkt verschmelzen will. Technische Normen sollen harmonisiert werden, Aufträge der öffentlichen Hand sollen europaweit ausgeschrieben werden, Staatsmonopole sollen fallen, Arbeitskräfte sollen sich frei durch Europa bewegen können.
Die Schweiz ist mit Österreich, Liechtenstein und den skandinavischen Ländern Mitglied der EFTA, einer losen Freihandelszone, welche die Briten als Konkurrenz zur verbindlicheren EG gründeten, bevor sie ihr 1973 selbst beitraten. Die EG will den EFTA-Ländern die Chance geben, an ihrem Binnenmarkt teilzunehmen, ohne ihr politisch beizutreten. Ende der 80er entwirft sie deshalb den Europäischen Wirtschaftsraum EWR. In einer Rede vom 17. Januar 1989 verspricht Jacques Delors den EFTA-Staaten eine Mitsprache bei der Rechtsprechung und -setzung im künftigen Binnenmarkt. Die Schweizer Wirtschaft reibt sich die Hände. Ein freier Markt mit 380 Millionen Konsumenten winkt.
Doch als die Verhandlungen der EG mit den EFTA-Staaten über den EWR beginnen, ist von Delors Versprechen nicht mehr die Rede. Die EFTA-Staaten müssen das EG-Recht, den «Acquis Communautaire», eins zu eins übernehmen. An künftiger Rechtssetzung, zum Beispiel über Wettbewerbsregeln, Schadstofflimiten und Kühlschrankgrössen, dürfen sie nur mitwirken, nicht mitbestimmen. Kein guter Deal, finden die Schweizer Diplomaten. Der Brüsseler NZZ-Korrespondent zitiert 1991 aus einem internen Bericht: «Für wirtschaftliche Vorteile müsste ein politischer Preis bezahlt werden, der an Wucher grenzt.»
Die Schweizer Diplomaten versuchen, mit den anderen EFTA-Ländern eine einheitliche Front gegen die EG aufzubauen. Doch die gibt nicht nach. Der EFTA-Block fällt auseinander, Schweden, Finnland und Österreich stellen lieber gleich ein Beitrittsgesuch. Bald besteht das EFTA-Lager neben der Schweiz nur noch aus Zwergen: Norwegen, Island, Liechtenstein. Am 21. Oktober 1991 fliegen die Bundesräte René Felber (SP) und Pascal Delamuraz (FDP), zwei EG-freundliche Romands mit schlechten Kenntnissen der Verhandlungssprache Englisch zur Schlussrunde der EWR-Verhandlungen in Luxemburg.
Gegen die Phalanx aus EG-Ministern, die sie während des Abendessens unter Druck setzt, haben sie keine Chance. Nachts um drei treten Felber und Delamuraz müde und vermutlich betrunken vor die wartende Presse. Die Schweiz verzichtet auf Mitbestimmung. Deshalb verkünden die beiden Bundesräte nun den EG-Beitritt zum strategischen Ziel – ohne Absprache mit Bern. Es ist eine 180-Grad-Kehrtwende des Bundesrats: Bisher hat er den Schweizern den EWR als Alternative zum EG-Beitritt verkauft.
Mit ihrem Auftritt, heisst es heute, hätten die beiden Bundesräte das EWR-Grab geschaufelt. «Als SP-Präsident musste ich den Entscheid begrüssen, da wir als Partei für den EG-Beitritt waren», erinnert sich Peter Bodenmann, «aber die Begeisterung für diesen taktischen Fehler hielt sich in Grenzen.» Instinktpolitiker Bodenmann ahnt damals, dass das den Schweizern zu schnell geht. Mit CVP-Präsident Ivan Rickenbacher und FDP-Präsident Franz Steinegger versucht er, den Bundesrat zu einer Verschiebung der Abstimmung zu bewegen, um die verunsicherten Wähler zu überzeugen.
«Wir hatten es leider mit europapolitischen Analphabeten zu tun», erzählt Bodenmann. Denn stattdessen beschliesst der Bundesrat am 18. Mai 1992 nach einer einstündigen Sitzung am frühen Morgen mit 4:3 Stimmen, bei der EG ein offizielles Beitrittsgesuch einzureichen. Mit diesem Manöver fernab der politischen Stimmung im Land versorgt er die EWR-Gegner mit genügend Munition bis zur Abstimmung am 6. Dezember 1992.
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Der Bund führt den Abstimmungskampf mit dem Abstimmungsbüchlein, Broschüren und einem Infotelefon. Die Gegner führen ihn mit Geld und Gefühlen. Christoph Blocher, ein 52-jähriger SVP-Nationalrat, der vor kurzem unter nicht restlos geklärten Umständen den Chemiekonzern EMS gekauft hat, nimmt Millionen in die Hand. Er zieht durch die Säle der Schweiz und warnt die Schweizer: Stimmt ihr für den EWR, gebt ihr eure Unabhängigkeit auf. Oft duelliert er sich mit seinem Parteikollegen Adolf Ogi, der den gemässigten Flügel der SVP verkörpert.
Eine Fernsehaufnahme aus dem Herbst 1992 zeigt Ogi, der bei einem Auftritt verzweifelt ins Publikum schaut. «Ich hoffe, ich habe in diesem Kursaal noch eine Chance», beschwört er die Zuhörer vergebens. SP-Präsident Peter Bodenmann nimmt auch an Veranstaltungen teil und unterstützt Ogi, der manchmal ausgebuht wird. «Erst in den Sälen begriff Blocher, dass hier ein fremdenfeindliches Potential darauf wartete, abgeholt zu werden», sagt Bodenmann heute. «Und er holte es ab.»
Widerstand gegen den EWR gibt es auch von Links. Die Grüne Partei ist gespalten: Viele Mitglieder östlich des Röstigrabens befürchten mit dem EWR-Beitritt eine Senkung der Umweltschutznormen. Zündstoff für dieses Argument liefert ein Bestseller: «Entscheidung Schweiz», geschrieben vom Ökonomen Rudolf Strahm, Sekretär der Naturfreunde Schweiz und seit 1991 SP-Nationalrat. 40'000 Exemplare gehen über die Theke.
Obwohl das Buch informiert und Nachteile den Vorteilen gegenüberstellt, zieht es zwischen den Zeilen die Drohkulisse der Deregulierung auf: Die Schweiz, damals das Land mit den höchsten Umweltschutznormen, begibt sich in eine Wirtschaftsgemeinschaft, in der Alptransit statt Alpenschutz zählt, Konzerne statt KMUS, «Ramschwaren» statt heimische Qualitätsprodukte. Das Buch bringt eine Angst zum Ausdruck, die viele Schweizer gegenüber der EG empfinden: Das Ende des Sonderfalls Schweiz.
Auf Seite 150 schreibt Rudolf Strahm: «Die Personen-Freizügigkeit wird möglicherweise zur Schicksalsfrage des schweizerischen Europa-Entscheids werden.» Er warnt vor den möglichen Folgen der Personenfreizügigkeit; Dumpinglöhne und Wohnungsnot. Noch heute regte sich Strahm, inzwischen 73, in einem Berner Café über die Ignoranz des damaligen Politestablishments auf. «Die verstanden nicht, was das Volk empfand.»
Wenige Wochen vor der Abstimmung zeigen die Umfragen, dass die EWR-Gegner massiv zulegen. Die Wirtschaft organisiert eine Demonstration auf dem Bundesplatz, an der Direktoren von Konzernen wie Sulzer für das Ja werben. Aber es ist zu spät. Am Morgen des 6. Dezember rechnen viele bereits mit der Niederlage. Die nachträgliche Vox-Analyse zeigt: Die grösste Sorge der EWR-Gegner war Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, gefolgt von Souveränitätsverlust.
Erstmals wird die neue Trennlinie, die fortan die Schweizer Politik bestimmt, sichtbar: nicht Büezer und Direktoren stehen sich gegenüber, sondern Konservative und Progressive, Städter und Ländler. Und, besonders deutlich: Westschweizer und Deutschschweizer. Die Romandie hat für den EWR gestimmt. Bundesrat Delamuraz schimpft auf die «deutschschweizer Ayatollahs». Er ist nicht der Einzige, bei dem die Nerven Blank liegen. SP-Präsident Peter Bodenmann bezeichnet den Parteikollegen Strahm, der trotz Zweifeln doch ein Ja zum EWR eingelegt hat, später als «Blochers halblinken Schneepflug».
Auch in Brüssel herrscht Katerstimmung. Als Missionschef Benedikt von Tscharner am Abend des 6. Dezember den zerknirschten Bundesrat am TV von einem «schwarzen Tag» sprechen sieht, denkt er: Was ist da schief gelaufen? «Unsere Lektion war: Es reicht nicht, wenn der Bundesrat das Abstimmungsbüechli verteilt. Wenn etwas neu ist, muss man es offensiv erklären.» Die Swissair sei fast das einzige Unternehmen gewesen, das sich ins Zeug gelegt hatte, erinnert sich von Tscharner. «Die wussten, was für sie auf dem Spiel stand.»
Bereits im Januar 1993 geht von Tscharner mit einer Liste von Fachbereichen, in denen die Schweiz trotz EWR-Nein mit der EG verhandeln möchte, zur Kommission. Wider Erwarten willigt die EU ein. «Das war das Wunder von 93», sagt von Tscharner, der im Frühling Brüssel in Richtung Wien verlässt. Der Beginn der Bilateralen.
* Die Familiengeschichte der Padruzzis ist ein fiktionales, erzählerisches Element.
Das "Nein" zu Europa ist auch als Misstrauensvotum gegenüber der Wirtschaft zu verstehen.