Skispringen, das ist auch: die Suche nach dem Kick. Der Nervenkitzel ist gross, selbst nach tausend Sprüngen noch. Die Athleten befänden sich in einem Rauschzustand, beschrieb einst der Schweizer Mannschaftsarzt Michael Wawroschek. Sprung für Sprung für Sprung ist da dieses Kribbeln im Bauch: Wird alles gut gehen?
Es braucht Mut, sehr viel Mut, um mit um die 100 km/h einen steilen Anlauf hinunter zu rasen, diesen nur mit Ski an den Füssen zu verlassen, durch die Luft zu fliegen und erst nach einigen Sekunden wieder zu landen. Einst bat ich Simon Ammann, er solle das Skispringen so erklären, damit auch ein Normalsterblicher einen Eindruck davon erhalten könne, wie sich das anfühle. «Ich war kürzlich im Europapark», antwortete der vierfache Olympiasieger, «wenn du da in der krassesten Bahn am höchsten Punkt aus dem Waggon springst – ja, so in etwa muss man sich Skispringen vorstellen.»
Jeder Springer weiss, dass das Risiko stets mitfliegt. Jeder Sprung kann der letzte sein. «Das Vatersein ermutigt mich, weiterhin das Risiko gut einzuschätzen», sagte Ammann anfangs Winter. Seit dem Herbst gehört der kleine Théodore zur Familie von Simon und Yana Ammann.
Der 33-Jährige dürfte von seinem üblen Sturz in Bischofshofen nach ersten Informationen eher geringe Verletzungen davon tragen. Aber die Schürfungen und Prellungen im Gesicht werden ihn noch eine ganze Weile bei jedem Blick in den Spiegel daran erinnern.
Werden ihm die Schrammen zum Aufhören raten? Oder kann Ammann sie ausblenden? Und was ist mit allfälligen Schrammen, die nicht zu sehen sind?
Der Österreicher Thomas Morgenstern, Olympiasieger und während vieler Jahre einer der ärgsten Rivalen des Schweizers, beendete vor dieser Saison seine Karriere. Nach schweren Stürzen habe er vor jedem Sprung Angst gehabt, gibt er offen zu. «Zum Schluss hat es mich nur mehr fertig gemacht», sagt Morgenstern. «Jeder einzelne Sprung war eine Überwindung und hat mich extrem viel Kraft gekostet. Ich war ständig am Zweifeln, ob das wieder wird. In diesem Gemütszustand macht es keinen Sinn.»
Simon Ammann ist gepackt von einer Droge, der Traum des Fliegens lässt ihn nicht los. Er hat die Pilotenlizenz im Sack, bildet sich im Selbststudium zum Linienpiloten weiter, weil er auch nach der Karriere das Fliegen zum Beruf haben möchte. «Ich weiss jetzt mehr oder weniger, was ich nachher machen werde. Es ist schon noch lustig, dass der Pilot irgendwann den Skispringer ablösen wird.»
Auch Morgenstern hebt weiterhin ab, er macht zur Zeit die Lizenz als Helikopter-Berufspilot. «Das Element Luft lässt mich nicht los», sagt er. Und Noriaki Kasai, Gesamtvierter der Vierschanzentournee, springt auch mit 42 Jahren noch von den Schanzen dieser Welt. «Skispringen ist mein Leben, es bedeutet für mich die Welt», antwortet der Japaner auf die Frage nach einem Rücktritt. Er hat gar bereits die nächsten Olympischen Spiele im Kopf: «2018 bin ich erst 45.»
Ganz so lange wird Simon Ammann nicht springen. Aber es ist gut möglich, dass er die Karriere trotz seinen Stürzen in Oberstdorf und Bischofshofen fortsetzen wird. Er ist kein Ikarus, sondern intelligent genug, das Risiko einzuschätzen. Die Frage ist nur, ob ihn sein Unterbewusstsein nicht bremst und er in der Lage sein wird, nach wie vor «auf tutti» zu gehen.
«Wer bremst, verliert», heisst ein Sprichwort aus dem Motorsport. Es lässt sich gut aufs Skispringen übertragen: Wer nicht bereit ist, ans Maximum zu gehen, der kann nicht siegen. Und für einen Sportler wie Simon Ammann, der in seiner Karriere vier Mal Olympiasieger geworden ist, einen kompletten Satz an WM-Medaillen besitzt, den Gesamtweltcup gewonnen hat, für so einen Sportler zählt nur der Erfolg.
Wenn Simon Ammann davon überzeugt ist, dass er nach seinem Sturz wieder zur Weltklasse aufschliessen kann, dann wird er weiterspringen. Wenn er merkt, dass ihn wie Morgenstern stets ein ungutes Gefühl begleitet, dann wird die aktuelle Saison seine letzte sein.