
Mardi-Gras-Parade in Sydney: Gibt es eine «schwule» Veranlagung?Bild: reuters
Die Debatte um das Gay-Gen schien in den letzten Jahren zu verstummen. Nun macht eine Studie erneut eine Region des X-Chromosoms für die Homosexualität verantwortlich. Das Gay-Gen existiert trotzdem nicht.
01.04.2015, 10:3001.04.2015, 10:30
greg zwygart / mannschaft.com
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Die Region Xq28 auf dem X-Chromosom sowie eine Region auf dem Chromosom 8 haben
einen grossen Einfluss darauf, ob ein Mann schwul ist oder nicht. So lauten die Erkenntnisse
einer Studie, die von Psychologieprofessor Michael Bailey im Februar 2014 am jährlichen
Treffen der weltweit grössten wissenschaftlichen Gesellschaft, der American Association for
the Advancement of Science, vorgestellt wurde. Die Studie analysierte die DNS von 400
schwulen Männern. «Sie zeigt, dass Gene mit der männlichen sexuellen Orientierung verwickelt sind»,
sagte Bailey.
Homosexualität ist tendenziell vererbbar
Die Erkenntnisse sind nicht neu, sondern bestätigen eine Studie aus dem Jahr 1993, die im
kleineren Rahmen von Molekularbiologe Dean Hamer durchgeführt wurde. Hamer studierte
die Familiengeschichte von 100 schwulen Männern und kam zum Schluss, dass
Homosexualität tendenziell vererbbar ist.
«Die Studie zeigt, dass Gene mit der männlichen sexuellen Orientierung verwickelt sind.»
Michael Bailey, Psychologieprofessor
Mehr als 10 Prozent der Brüder von schwulen Männern
waren selber schwul im Vergleich zu drei Prozent der Bevölkerung. Auch Onkel und männliche
Cousins mütterlicherseits sind mit grösserer Wahrscheinlichkeit schwul als Verwandte
väterlicherseits, so Hamer.
In weiteren Forschungsarbeiten konzentrierte sich Hamer auf das X-Chromosom und somit
auf die Gene, die von der Mutter an ihre Söhne weitergegeben werden. Er fand heraus, dass
33 von 40 schwulen Brüdern ähnliche genetische Marker in der Region Xq28 aufwiesen und
es sich bei diesen Genen somit um Schlüsselgene in der Frage der sexuellen Orientierung
handeln muss.
Konservative empört, LGBT-Aktivisten in Sorge
Vor 20 Jahren sorgte Hamers Studie für eine Kontroverse, die wohl einem heutigen
Shitstorm gleichkäme. In der Gesellschaft weit verbreitet war die Annahme, dass
Homosexualität eher durch die Umwelt «verursacht» wurde, als durch genetische
Vorbestimmung.

Demonstranten gegen die gleichgeschlechtliche Ehe in Utah: Der Gedanke, dass Eltern die sexuelle Neigung an ihre Kinder vererben könnten, empört konservative Kreise.Bild: Getty Images North America
Besonders konservative Kreise vertraten die Ansicht, dass emotional
distanzierte Väter oder das Spielen mit Mädchen homosexuelle Neigungen in jungen
Männern auslösten. Der Gedanke, dass Homosexualität von den Eltern selbst an die Kinder
weitergegeben wird oder gar natürlich sei, sorgte für grossen Aufruhr.
Ein einziges Gay-Gen gibt es nicht
Gleichzeitig befürchteten viele LGBT-Aktivisten, dass bald pränatale Tests die Sexualität
eines Embryos voraussagen würden, ähnlich wie im Science-Fiction-Film Gattaca. Beispiel
für die im Vergleich zu heute weniger tolerante Haltung gegenüber Homosexuellen ist die
Schlagzeile des britischen Boulevardblatts Daily Mail von 1993: «Hoffnung auf Abtreibung
dank Entdeckung des Gay-Gens».
Mannschaft ist das Magazin für schwule Männer in der Schweiz

Doch Hamers Studie – und somit auch die Studie, die im Februar 2014 vorgestellt
wurde – kann die Befürchtung einer möglichen Vorbestimmung der männlichen Sexualität
mit ihren eigenen Erkenntnissen wieder entschärfen. Ein einziges Gay-Gen gibt es nicht.
Stattdessen haben mehrere Gene auf der Region Xq28 einen limitierten und variierenden
Einfluss auf die sexuelle Orientierung.
«Die Abweichungen in der menschlichen Sexualität können nur zu 30 bis 40 Prozent durch genetische Faktoren belegt werden.»
Qazi Rahman, Psychologe
Nicht alle schwulen Männer, die an der neuen Studie
von Professor Bailey teilnahmen, haben dieselbe Xq28-Region geerbt. Die fraglichen Gene
sind also weder ausschlaggebend noch erforderlich, um Männer «schwul zu machen».

Pränatale Tests zur Bestimmung der Sexuallität sind kaum möglich: Embryo im 4. Schwangerschaftsmonat. bild: shutterstock
«Es ist weder kontrovers noch überraschend. Alle menschlichen psychologischen Merkmale
sind vererbbar, sie haben also eine genetische Komponente», sagt Qazi Rahman,
Psychologe am King’s College in London. «Die Abweichungen in der menschlichen
Sexualität können nur zu 30 bis 40 Prozent durch genetische Faktoren belegt werden.»
Homosexualität ein Paradox?
Entschärfung scheint auch die Evolutionslehre von Darwin zu geben. Wie kann ein Merkmal
wie die Homosexualität, das 10 Prozent der Bevölkerung betrifft, und welches das Zeugen
von Nachwuchs verhindert, so häufig von den Eltern an ihre Kinder weitergegeben werden?
Selbst im Tierreich können homosexuelle Aktivitäten in knapp 400 Gattungen nachgewiesen
werden, darunter auch bei den Bonobos, nahe Verwandte des Menschen.
«Aus einer Perspektive der Evolution ist es ein Paradox», sagte Paul Vasey von der
University of Lethbridge in Kanada gegenüber der BBC. «Wie kann die männliche
Homosexualität als genetische Komponente über evolutionäre Zeiträume bestehen, wenn
sich die Träger des Merkmals nicht reproduzieren?»
Die Studien von Hamer und Bailey sind nicht die einzigen, die sich mit der Entwicklung der
männlichen Sexualität befassen. In den letzten Jahren ist ein wahrer Dschungel aus Studien
und Theorien entstanden, die es sich zum Ziel gesetzt haben, das evolutionäre Geheimnis
der Homosexualität zu lüften.
Mütter von schwulen Männern sind fruchtbarer
Eine Theorie, die das Evolutionsparadox umgehen könnte, ist diejenige von Andrea
Camperio-Ciani, Forscher an der Universität Padova in Italien. So könnte ein bestimmtes
Gen sein Reproduktions-Defizit wieder wettmachen, wenn es beim anderen Geschlecht
einen entgegengesetzten Effekt hat.

Anti-Putin-Demo in Russland: Der russische Präsident gilt als Vordenker der Anti-Gay-Bewegung.Bild: reuters
Der Forscher und sein Team kamen 2008 auf diese
Theorie, nachdem sie vier Jahre lang die Familiengeschichte von 200 italienischen Familien
analysierten. Sie kamen zum Schluss, dass Mütter von schwulen Männern sowie ihre Tanten
und Grossmütter mütterlicherseits fruchtbarer sind als der nationale Durchschnitt.
Das erste Mal, dass ein Modell passt
Gemäss Camperio-Ciani und seinem Team haben die Gene zur Folge, dass die Träger sich
stärker von Männern angezogen fühlen. Männer würden sich daher von anderen Männern
angezogen fühlen, während Frauen durchschnittlich mehr Sexualpartner hätten und so auch
häufiger schwanger werden als Frauen ohne diese Gene.
«Das ist das erste Mal, das ein Modell auf unsere erhobenen Daten passt», sagt Camperio-Ciani, ein evolutionärer Psychologe. «Diese Gene wirken sexuell entgegengesetzt. Das
heisst, wenn eine Frau Trägerin dieser Gene ist, erhöhen diese ihre Fruchtbarkeit. Bei einem
Mann reduzieren sie seine Fruchtbarkeit. Es ist ein Merkmal, das ein Geschlecht auf Kosten
des anderen begünstigt.»
Nicht genetisch, sondern epigenetisch bedingt
Eine neuere Theorie des amerikanischen Instituts NIMBioS aus dem Jahr 2012 behauptet,
Homosexualität habe gar nichts mit den Genen zu tun. «Es ist nicht Genetik. Es ist nicht die
DNS. Es sind auch nicht Teile der DNS», sagt Sergey Gavrilets, Forscher am NIMBioS-Institut und Mitverfasser der Arbeit, die sich mit der neuen Theorie der Homosexualität
befasst. «Unsere Hypothese basiert auf Epigenetik.»
Gegenüber dem amerikanischen Magazin «Time» erklärte Gavrilets, dass epigenetische
Markierungen auf der DNS die Empfindlichkeit gegenüber Hormonen im Mutterleib
regulieren. Während der Entwicklung des Embryos bestimmen diese Markierungen, welche
Gensequenzen zu welchem Zeitpunkt aktiviert werden.
So schützen epigenetische
Markierungen beispielsweise weibliche Föten vor zu hohen Testosteronwerten im Mutterleib
oder kurbeln die Rezeptoren an, sollte ein männlicher Fötus zu wenig Testosteron erhalten.
Was ist Epigenetik?
Die Epigenetik bezeichnet Vorgänge, die ausserhalb der Genregulation der Genexpression wirken, sie aber beeinflussen. Die Epigenetik ist ein Fachgebiet der Biologie, welches sich mit der Frage befasst, welche Faktoren die Aktivität eines Gens und damit die Entwicklung der Zelle zeitweilig festlegen und ob bestimmte Festlegungen an die Folgegeneration vererbt werden.
Grundlage sind Veränderungen an den Chromosomen, wodurch Abschnitte oder ganze Chromosomen in ihrer Aktivität beeinflusst werden. Man spricht auch von epigenetischer Veränderung bzw. epigenetischer Prägung.
Die DNA-Sequenz wird dabei jedoch nicht verändert. Die Veränderungen können sowohl in einer DNA-Methylierung als auch in einer Modifikation der Histone bestehen. Diese Veränderungen lassen sich im Phänotyp, aber nicht im Genotyp (DNA-Sequenz) beobachten.
Solide Theorie?
Gemäss Gavrilets und seinen Kollegen werden epigenetische Markierungen auf der DNS
nach ihrer Aktivierung wieder gelöscht. Trotzdem könne es vorkommen, dass diese
Markierungen von der einen Generation zur nächsten weitergegeben werden. So würden
Markierungen, die einen weiblichen Fötus vor zu viel Testosteron schützen, bei ihrem
zukünftigen Sohn für eine Unterempfindlichkeit sorgen.
Obwohl die Annahmen noch nicht mit Studien belegt werden konnten, ist Gavrilets
überzeugt, dass seine Theorie solide ist. Experimente könnten zudem belegen, zu welchem
Umfang epigenetische Markierungen einen Einfluss auf sexuelles Verhalten haben.
Gavrilets Theorie ist seit ihrer Veröffentlichung kontrovers. So hätten LGBT-Gruppen ihn und
sein Forscherteam kritisiert, dass keine wissenschaftlichen Erkenntnisse nötig seien, um ihre
Existenz zu rechtfertigen, so Gavrilet.
Der «Big Brother»-Effekt
Auch Qazi Rahman ist der Meinung, dass hormonelle Schwankungen im Mutterleib eine
entscheidende Rolle bei der Entwicklung der Sexualität spielen. Er spricht von einem «Big
Brother»-Effekt, von dem einer von sieben schwulen Männern betroffen ist. Je mehr ältere
Brüder ein Junge hat, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass er schwul ist.
Grund
dafür sei eine Immunreaktion der Mutter auf männliche Stoffe, die von Knaben in der
Gebärmutter verursacht werden. Die Immunreaktion werde von Schwangerschaft zu
Schwangerschaft stärker, so Rahman. Doch auch diese Theorie ist nur eine Hypothese unter
vielen und muss noch bewiesen werden.
No Components found for watson.monster.
Gentest dank Zwillingsstudie unwirksam
Die genetischen Studien konzentrieren sich alle auf die Erforschung der männlichen
Homosexualität. Bei der Entwicklung von Modellen zur Entstehung der lesbischen Sexualität
waren Forscher vorerst noch nicht erfolgreich.
«Wir arbeiten noch an der weiblichen Homosexualität, da wir nicht dieselben Resultate
erhalten», sagt Andrea Camperio-Ciano. «Es ist möglich, dass wir eine komplett andere
Erklärung dafür bekommen.»
«Wenn festgestellt wird, dass Homosexuelle eine vorbestimmte Veranlagung haben, werden viele Argumente gegen ihre Gleichberechtigung an Glaubwürdigkeit verlieren.»
«Time»
Auch Dean Hamer konnte eine Parallelstudie mit lesbischen Frauen zur Xq28-Region nicht
vervollständigen. Ob Gavrilets Theorie zu den epigenetischen Markierungen einen Einfluss
sowohl auf die männliche als auch auf die weibliche Homosexualität beweisen kann, müssen
Studien erst noch belegen.
Kein Gentest für die Sexualität eines Embryos
Mit der Veröffentlichung jeder neuen Studie befürchten LGBT-Aktivisten und Organisationen,
dass eine definitive Formel für die Entstehung der Homosexualität erarbeitet und gegen sie
verwendet werden kann. Es ist heute ausgeschlossen, dass ein Gentest in Zukunft die
Sexualität eines Embryos im Mutterleib voraussagen kann.
Zwillingsstudien haben sogar gezeigt, dass ein eineiiger Zwillingsbruder eines schwulen
Mannes mit grösserer Wahrscheinlichkeit heterosexuell ist, obwohl die beiden eine
identische DNS besitzen. Ein Gentest, der die sexuelle Orientierung voraussagen könnte,
wäre also ineffektiv.
Veranlagung als Chance für gleiche Rechte
Qazi Rahmen glaubt nicht, dass genetische Forschung zur Diskriminierung von Schwulen
und Lesben missbraucht werden kann: «LGBT-Menschen sind in der Geschichte verfolgt
und misshandelt worden, weil Politiker, religiöse Gruppen und Gesellschaften die sexuelle
Orientierung als ‹Entscheidung› angesehen haben oder als Produkt einer schlechten
Erziehung.»
«Rechte zitieren mich, weil ich gesagt habe, es gebe kein Gay-Gen. Das stimmt insofern, als dass es kein einziges Gen gibt, das die sexuelle Orientierung bestimmt. Das heisst aber nicht, dass diese Merkmale nicht genetisch bedingt sind.»
Dean Hamer, Molekularbiologe
In einem YouTube-Video distanzierte sich Dean Hamer von konservativen Kreisen, die seine
Forschungsarbeit als Argumente gegen die natürliche Veranlagung der Homosexualität
verwendet hatten: «Rechte zitieren mich, weil ich gesagt habe, es gebe kein Gay-Gen. Das
stimmt insofern, als dass es kein einziges Gen gibt, das die sexuelle Orientierung bestimmt,
wie es auch kein einziges Gen gibt, das für die Augen- oder die Haarfarbe zuständig ist.
Diese Merkmale sind von mehreren Genen und ihrer Interaktionen mit externen Einflüssen
abhängig. Das heisst aber nicht, dass diese Merkmale nicht genetisch bedingt sind.»
Das Magazin «Time» schreibt sogar, dass sich bei einem Durchbruch in der Genforschung die
politische und gesellschaftliche Haltung gegenüber Homosexualität weiter öffnen wird:
«Wenn festgestellt wird, das Homosexuelle eine vorbestimmte Veranlagung haben, werden
viele Argumente gegen ihre Gleichberechtigung an Glaubwürdigkeit verlieren.»