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Krass! Was Johanna Spyri ausser «Heidi» geschrieben hat

So sah das Heidi 1951 aus. Mit Elsbeth Sigmund und Heinrich Gretler.
So sah das Heidi 1951 aus. Mit Elsbeth Sigmund und Heinrich Gretler.
bild: praesens film

Missbrauch, Inzest, Waisenkinder: Johanna Spyris Welt neben «Heidi»

Im Kino schauen gerade mehr Leute «Heidi» als den neuen Bond. Aber was hat Johanna Spyri (1827–1901) neben ihrem Weltbestseller eigentlich sonst noch geschrieben? Rabenschwarze Erzählungen über kaputte Dörfer.
16.12.2015, 12:5517.12.2015, 16:20
Simone Meier
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Der Vater operiert Brustkrebs ohne Narkose und lässt die frisch Operierten im Doktorhaus wieder genesen. Die Mutter schreibt religiöse Lyrik, irre Visionen über Tod und Jenseits. Die sechs Kinder spielen neben ein paar besonders schweren Psychiatriefällen, die der Vater ebenfalls zu Hause beobachtet. «Schauerszenen der Wahnsinnigen», schreibt die Mutter, würden sich im Doktorhaus abspielen.

Johanna Spyri mit 21 Jahren.
Johanna Spyri mit 21 Jahren.
Bild: Gemeinfrei

Eins der sechs Kinder in dem Haus auf dem Hirzel oberhalb von Horgen und Wädenswil ist Johanna. Bis 25 lebt sie dort mit Ausnahme weniger Jahre, die sie in Schulen in Zürich und Yverdon verbringt. Schliesslich wird sie erlöst, vom jungen Rechtsanwalt Bernhard Spyri, der sie mit nach Zürich nimmt. Doch Johanna Spyri hasst die Hausarbeit, ihr Bernhard liest bei Tisch viel lieber die Zeitung, als mit ihr zu reden, und ihre einzige Schwangerschaft stürzt sie in eine jahrelange Depression.

«Dem Heidi war es so schön zumute, wie in seinem Leben noch nie. Es trank das goldene Sonnenlicht, die frischen Lüfte, den zarten Blumenduft in sich ein und begehrte gar nichts mehr.»
«Heidi»-Zitat im SBB-Neigezug Johanna Spyri

Die Schweiz mit all ihren Alpenkräutern und Frischmilchkuren hilft dagegen nichts. Johanna Spyris Rettung kommt aus Deutschland. Und auch nicht vom Land, sondern aus einer andern Stadt. Sie besucht einen der frommen Freunde ihrer Mutter, einen Pastor in Bremen, und der fordert sie auf, für die Erbauungsschriften junger Diakonissinnen etwas Heiteres zu schreiben. 

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Bild: gemeinfrei

Johanna setzt sich hin und schreibt als erstes das durch und durch niederschmetternde Ehedrama «Ein Blatt auf Vrony's Grab» (1871). Es ist die Geschichte einer misshandelten Landfrau, die von ihrem Mann derart verprügelt wird, dass das Blut nur so spritzt und sie im Spital «mit offenen Wunden» übersät und schwer umnachtet stirbt. Aber weil die Qual sie Jesus näher bringt, hat alles doch noch seinen tieferen Sinn, der böse Gatte ist nur der Vollstrecker von Gottes Willen.

Keine von Spyris Geschichten wird je wieder so drastisch, blutrünstig und gewalttätig sein. Aber richtig hell wird es in ihrem literarischen Universum nie. Ihr Bestseller «Heidi» (1879 und 1881) ist im Vergleich zu vielen ihrer Kindergeschichten schon fast ein sonniger Schwank. So richtig verklären kann sie einzig die helvetische Natur – quasi als Blumenrabatte und Vorgärtlein des Paradieses – und sie betreibt damit eine ähnliche Art von Tourismus-Schriftstellerei wie Mark Twain 1878 mit seiner Schweizerreise.

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Bild: Gemeinfrei

Doch die Bewohner dieser Natur sind grundschlecht. Inzestuöse Hinterwäldler («In Hinterwald»), die alle den gleichen Familiennamen tragen. Zurückgebliebene, fehlernährte, verlauste Kinder, die zwar wissen, wie man mit Pflanzensäften bunte Bilder malen kann, aber von Lesen und Schreiben keine Ahnung haben. Auf ihren Köpfen tragen die «Wilden» verfilzte Nester, Kämme kennen sie keine, alle paar Monate werden sie kahl geschoren.

Im Gegensatz zu Astrid Lindgren trachtet Johanna Spyri ihren kleinen Helden erst einmal nach dem Leben.

Eine Erziehungsmethode ist das «Strafloch», eine Grube im Boden, die mit einer Steinplatte verschlossen wird. Erst kurz vor dem Ersticken werden die Kinder wieder rausgeholt. Und wenn nicht ab und zu jemand vorbeikäme, der in der Stadt («In Hinterwald») oder im Ausland («Rosenresli») eine anständige Ausbildung gemacht hat, würden die ganzen Dörfer eingehen wie Sodom und Gomorrha. 

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Bild: gemeinfrei

Die klassische Familienstruktur, wie sie Johanna Spyri selbst so ungern gelebt hat, ist in all ihren Erzählungen tot. Mütter sterben grundsätzlich als erste, die Väter folgen ihnen verwirrt, versoffen und auf jeden Fall depressiv hinterher. Die kleinen Halb- oder Vollwaisen müssen sich – wie das Heidi – Ersatzfamilien suchen. Sie geraten an verarmte alte Frauen («Rosenresli») oder einsame Sennen im Alpöhi-Stil («Vom This, der doch etwas wurde»), selten einmal an eine nette junge Lehrerin oder eine intakte Familie mit anderen Kindern («Ein Landaufenthalt von Onkel Titus»). Es lebe das Patchwork.

Doch bis es soweit ist, sind die Kleinen schon längst zu Krankenpflegern und Therapeuten total angeschlagener Erwachsener geworden und derart überfordert vom Leben, dass sie sich nur noch ins Beten flüchten können. Denn Beten statt Psychotherapie, sowas hilft bei Johanna Spyri immer.

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19 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Fumo
16.12.2015 14:51registriert November 2015
Bis auf den Punkt in dem Religion als nutzlos dargestellt wird war es ein guter Artikel. Ob man selbst nun an Gott glaubt oder nicht, nicht einzusehen dass es denen die dran glauben auch wirklich hilft ist genau die Sturheit die Atheisten den Gläubigen vorwerfen.
Einen Pfarrer der einem zuhört weil er es gerne macht kann hilfreicher sein als jeder Psychiater der für Geld Interesse heuchelt.
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zombie woof
16.12.2015 13:53registriert März 2015
Hm ich bin verwirrt denn das ist doch genau die Welt, die die SVP und das Volch wollen oder habe ich da etwas falsch verstanden?
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