«Ziel auf 13 Uhr.» Ruben drückt sein Gesicht an das Fenster des kleinen Flugzeugs. Sein Atem beschlägt die Scheiben. Ohne den kleinen Punkt unten im Wasser aus den Augen zu lassen, tastet er nach dem Fernglas auf seinen Oberschenkeln. Ein kurzer Blick genügt und er bestätigt: «Ja, das ist ein Schlauchboot. Und gleich daneben ist noch ein zweites. Lass uns das abchecken gehen.» Fabio lenkt das Flugzeug ein wenig tiefer, auf gut dreihundert Meter über Meer. Sam, der neben mir sitzt, beugt sich zu meiner Seite und hält den Fotoapparat bereit. Das Boot rückt näher. Fabio zieht das Flugzeug nach rechts und wir schwenken in einem Bogen über die Menschen unter uns. Das Manöver hebt uns leicht aus dem Sitz, mein Körper drückt nach rechts gegen die vibrierende Flugzeugwand. Ich schaue aus dem Fenster nach unten. Dann sehe ich sie.
Und auch sie sehen uns jetzt. Hundert Hände winken zu uns hoch. Eine Frau rudert hektisch mit den Armen, in ihrer Hand schwenkt sie ein Tuch, das sie sich zuvor als Schutz gegen die Sonne über den Kopf gezogen hatte. Einige bewegen ihre Lippen und scheinen uns zuzurufen. Ich zähle jeweils fünf bis sechs Menschen nebeneinander und schätze, dass es über zwanzig Reihen sein müssen. Platz zum Sitzen gibt es keinen. Alle stehen, dicht an dich, sodass es kaum möglich ist, sich zu bewegen. Mir wird schlecht beim Gedanken, dass sie bereits die ganze Nacht so in diesem Boot unterwegs sind. Ohne Licht und mit einem Motor, der so schwach ist, dass er die Boote im Zickzack fahren lässt, sind sie auf das dunkle Meer gefahren. Als einziger Anhaltspunkt dienen die Flammen eines Ölbohrturmes auf dem Meer. Die Schlepper sagen den Flüchtlingen, darauf sollen sie zusteuern, es seien die Lichter von Europa.
Durch seinen Fotoapparat zoomt Sam näher ran. «Es tritt kein Wasser ins Boot ein und es hat keine Menschen über Bord. Vorläufig sollte die Situation stabil sein», sagt er. Ruben notiert sich die Zeit, Koordinaten und in welche Richtung die zwei Schlauchboote mit wie vielen Knoten pro Stunde unterwegs sind. Er wird sie danach an die Seenotrettungszentrale in Rom funken und zusätzlich die Schiffe der Nichtregierungsorganisationen (NGO) informieren, die sich heute im Suchgebiet vor der libyschen Küste befinden. Mehr können wir von hier oben nicht tun. Fabio dreht ab, die winkenden Menschen werden zu kleinen, verlorenen Punkten.
Erst vier Tage später werde ich erfahren, dass es an diesem Tag nicht alle lebend an Bord eines Rettungsschiffes geschafft haben. Von seinem Flugzeug aus wird Fabio die Leichen sehen, die es an die Wasseroberfläche treibt.
Zwei Appenzeller, eine gemeinsame Passion: das Fliegen. So lernen sich Fabio Zgraggen (32) und Samuel Hochstrasser (37) kennen. Fabio, ursprünglich Grafikdesigner, und Sam, Dachdecker, eröffnen in der kleinen Gemeinde Gais eine Gleitschirm-Flugschule. Zusätzlich lässt sich Fabio zum Piloten ausbilden. Nach einem Flugtag sitzen die beiden mit Freunden unter dem Sternenhimmel am Feuer. Schlagzeilen von Flüchtlingen, die zu Hunderten vor der italienischen Küste ertrinken, laufen über alle Kanäle. Fabio fragt sich, warum es kein Flugzeug gibt, das von der Luft aus die Seenotrettungen koordiniert. Schliesslich sei der Überblick von oben viel besser. Er und Sam sind zu diesem Zeitpunkt weder politisch aktiv noch besonders wohltätig engagiert. Vielmehr sind sie ziemlich normale junge Männer, Outdoor-Typen, die gerne in den Bergen sind oder auf Reisen, die es gerne praktisch haben, zu denen die Aussage passt: «Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung.» Sie gehen weder auf Demonstrationen noch sammeln sie Geld für ein karitatives Projekt. Aber sie haben einen gesunden Sinn für Gerechtigkeit. Und dieser wird an jenem Abend am Feuer geweckt.
Sie fassen den Entscheid, dem Sterben auf dem Mittelmeer nicht mehr untätig zuzuschauen. Wenige Tage später kontaktieren sie die Organisation Sea-Watch. Die deutsche NGO war eine der ersten, die sich auf Malta niederliess und zwei eigene Schiffe kaufte, um Flüchtlinge im Mittelmeer vor dem Ertrinken zu retten. Der Berliner Ruben Neugebauer (27), der seit Beginn von Sea-Watch auf Malta dabei ist, erhält die Mail von Fabio und Sam. Er ist von der Idee der Seenotrettung aus der Luft begeistert. Das ist die Geburtsstunde der humanitären Piloteninitiative. Ein Jahr später, im Juni 2016, starten die drei ihren ersten Seenotrettungs-Flug. Seither stehen Fabios und Sams Leben Kopf.
Inzwischen ist das Team um die humanitäre Piloteninitiative auf sechs Piloten angewachsen. Alle arbeiten freiwillig und unentgeltlich. Das vierplätzige Kleinflugzeug, die HB-KHG mit dem Rufnamen «Moonbird», haben sie von einer Flugschule in St.Moritz gechartert. «Air Corviglia» steht auf der Schnauze hinter dem Propeller. 290 Kilometer legt es in der Stunde zurück und bringt eine Flugleistung von maximal 1100 Kilometer hin. Das reicht für einen gut fünfstündigen Suchflug. Der Kabinenraum ist knapp eineinhalb Meter hoch. Ein Rettungseinsatz-Flug kostet 2000 Franken. Finanziert wird das über Spendengelder und über die Partnerorganisation Sea-Watch. Seit einem Jahr ist die Moonbird so oft in der Luft, wie es die Kapazität der Piloten zulässt, und so lange, wie das Geld für den Sprit reicht. Mit dem aktuellen Spendenstand können Fabio und Sam noch bis Mitte August weiterfliegen. Fabio verbringt pro Monat jeweils rund zwei Wochen auf Malta. «In der Hoffnung, dass es weniger wird», sagt er. Auch Sam will mit den Einsätzen zurückschrauben: «Ich habe einen kleinen Sohn. Und ehrlich gesagt bin ich langsam ein wenig durch. Was wir da oben sehen, wirkt nach.»
Am Abend vor unserem Einsatz sitzen wir auf der Terrasse der «Burg». So nenne ich das honigfarbene Kalksteinhaus mit massiver Fassade und Rundbogenfenstern, das in Vittoriosa, einer Kleinstadt an der Ostküste von Malta, auf einer Anhöhe steht, nur wenige Meter von der Meeresbucht entfernt. Vor zwei Jahren hat sich hier die Crew von Sea-Watch eingemietet. Auch Fabio und Sam steigen hier ab, wenn sie nach ihren Flugeinsätzen auf die Insel zurückkehren.
Unten im Hafen schwimmen die Luxusyachten, in der Burg sprechen freiwillige Helfer über tote Kinder im Mittelmeer. Oben auf dem Dach haben wir Aussicht auf die maltesische Sonne, die den Himmel kitsch-rosa verschmiert und langsam hinter die aufziehenden Wolken taucht. Die aufleuchtenden Strassenlampen hüllen den malerischen Hafen in einen orangen Mantel. Beinahe kommt Ferienstimmung auf. Doch das Wissen, dass nur wenige Kilometer von hier entfernt tausende Menschen jeden Tag aus Verzweiflung aufs Meer gehen, um genau dieses Privileg des schönen Lebens auch einzufordern, trübt dieses Gefühl. Als hätte Fabio meine Gedanken gelesen, sagt er: «Manchmal fühlt es sich schon sehr seltsam an. Da warst du gerade noch in der Luft und hast Menschen beim Ertrinken gesehen und wenn du dann zurückkommst, sitzt du hier oben und schaust den Touristen beim Flanieren zu.»
Wir planen den morgigen Tag. Ruben checkt das Wetter. Es wird perfekt sein. Fast kein Wind, das Meer ruhig. Fabio und Sam werfen sich vielsagende Blicke zu. Es könnte ein langer Tag werden. Ruben sagt, auch wenn das Wetter stimmt, sei es immer schwierig einzuschätzen, ob es tatsächlich Boote haben wird oder nicht. «Was die libysche Küstenwache vorhat, was die Schlepper, wie gerade die Situation in den Flüchtlingscamps in Libyen aussieht, das alles wissen wir nicht.» Der Flug vom maltesischen Flughafen an die libysche Küste ist immer ein Flug ins Ungewisse. So sehr Fabio und Sam dieses abenteuerliche Gefühl beim Gleitschirmfliegen suchen und lieben, so sehr fürchten sie es hier auf Malta. «Dieses Nichtwissen, ob du heute Flüchtlinge finden wirst oder nicht, ob du sie lebend oder tot findest, das ist nichts Schönes», sagt Fabio.
Am nächsten Morgen, dem Tag unseres Einsatzes, bekomme ich einen Eindruck davon, wie brutal sich diese Ungewissheit anfühlen kann. Um fünf Uhr brechen wir auf. Die anderen Burgbewohner schlafen noch. Nur das Licht in der Küche flutet aus dem Fenster auf die noch in Dunkelheit gehüllte Strasse. Wir steigen in unsere orangefarbenen, feuerfesten Overalls, schauen, dass jeder etwas in den Magen bekommt, verzichten aber auf Kaffee, weil dieser harntreibend ist und wir im Flugzeug während mehreren Stunden nicht auf die Toilette können, und fahren zum Flughafen. Im Auto spricht niemand. Fabio schaltet Musik ein. Campino von den «Toten Hosen» singt:
Das Lied klingt wie eine Hymne auf unser Vorhaben. Vielleicht ist es der Pathos gepaart mit Nervosität und Angst, der mir den Hals zuschnürt. Ich schaue angestrengt nach draussen. Wir parken. Fabio, gähnend, die Augen noch klein, zieht seinen Rollkoffer zum Kabäuschen, wo wir durch die Militärkontrolle müssen, um auf den Flugplatz gelassen zu werden. Hinter den ersten Maschinen der internationalen Airlines, die mit laut dröhnenden Triebwerken auf die Flugbahnen rollen, steigt die Sonne als drohender roter Feuerball auf.
Während Fabio und Sam den Morgentau von den Flugzeugfenstern putzen, tigert Ruben nervös hin und her. Abwechslungsweise tippt er etwas in sein Smartphone oder Tablet. Er verschickt eine E-Mail an die EU-Militäroperation «Sophia», informiert die Seenotrettungszentrale in Rom über unseren Einsatz und schaut nochmals die Positionen der NGO-Schiffe nach, die sich gerade im Suchgebiet befinden.
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Fabio sagt, seit Beginn des Jahres seien viel weniger Schiffe von staatlicher Seite her unterwegs. «Wir werden zunehmend alleine gelassen», sagt er. Er zieht den Reisverschluss seines Overalls hoch, setzt sich hinter den Steuerknüppel der Moonbird und schiebt die Sonnenbrille auf die Nase. In den letzten Monaten sind die Einsätze der humanitären Piloten, der Sea-Watch und anderen Seenotretter in die Kritik geraten. Ihnen wird öffentlich von Regierungen und Beamten der Europäischen Union vorgeworfen, naive Handlanger der Schlepper zu sein. Sie seien mitschuldig, dass sich so viele auf die gefährliche Überfahrt begeben und sterben. Sebastian Kurz, Aussenminister von Österreich, forderte: «Der NGO-Wahnsinn muss ein Ende haben.» Der Direktor der europäischen Grenzschutzbehörde Frontex, Fabrice Leggeri, sagte: «Wir müssen verhindern, die Geschäfte der kriminellen Netzwerke und Schleuser in Libyen dadurch zu unterstützen, dass Migranten immer näher an der libyschen Küste von europäischen Schiffen aufgenommen werden.»
«Was wir hier tun, ist nichts Illegales», sagt Sam. Er befestigt sein Tablet an der Rücklehne des vorderen Sitzes, legt Fernglas, Fotoapparat und Sandwich bereit und schwingt sich in das Flugzeug. Ihn ärgert den Vorwurf der Schlepperei. «Menschen in Seenot zu retten und in einen sicheren Hafen zu bringen, ist eine menschenrechtliche Pflicht. Es gibt eine Verordnung, die von den Vereinten Nationen unterschrieben wurde. Die anderen sind es, die sich nicht an das Gesetz halten.» Er zieht die Türe des Flugzeuges zu.
Doch nicht nur in der Politik, auch auf hoher See kommt es zu Angriffen gegen die Seenotretter. Eine junge Hamburgerin, die von einem zweiwöchigen Einsatz mit Sea-Watch zurück auf die Burg kam, erzählte mir, dass die libysche Küstenwache beinahe ihr Schiff gerammt habe, das unterwegs zu einer Seenotrettung war. Um ein Haar wäre es zu einem Unfall gekommen, der nicht nur das Leben der Flüchtlinge, sondern auch das der Crew der Sea-Watch und jenes der Besatzung auf dem libyschen Schiff in Gefahr gebracht hätte. Wenige Wochen vorher blockierte die rechtsextreme «Identitäre Bewegung» aus Österreich das Schiff einer Hilfsorganisation im Hafen der sizilianischen Stadt Catania. Sie wollten verhindern, dass die Seenotretter zurück ins Suchgebiet auslaufen. In ihrem Aufruf schrieben die Rechtsextremen, man wolle nicht tatenlos zusehen, wie sich Hilfsorganisationen am internationalen Geschäft der Migration beteiligten und die Illusion eines nicht existierenden Eldorados in Europa nähren.
Während sich solche Vorkommnisse häufen, steigt gleichzeitig die Zahl der Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Italien gelangen, weiter an. Im vergangenen Jahr waren es rund 180'000, die nach Italien kamen. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres waren es über 60'000. 1700 starben.
«Diese Zahlen machen den Streifen entlang der libyschen Küste zur tödlichsten Zone des Mittelmeers. Nirgends in Europa gibt es mehr Tote als hier», sagt Ruben. Er ist immer noch mit seinen Geräten beschäftigt, muss noch die Funkantenne im Flugzeug befestigen, damit nachher in der Luft die Kommunikation mit den Schiffen gut klappt. Ich frage ihn, warum in aller Welt er sich das hier antut. Wie er es aushält, täglich die Tragödie auf dem Meer mitzuerleben, ohne dass die Katastrophe ein absehbares Ende nimmt, und dabei von der Politik beschimpft zu werden. Rubens Antwort kommt schnell. «Weil man nur logisch rechnen muss», sagt er. «Die Wahrscheinlichkeit, auf dem Meer zu sterben, liegt bei 1:40, wenn wir da sind. Ohne uns liegt sie bei 1:20.» Fabio wird ungeduldig. «Los jetzt», ruft er und Ruben hastet in die Moonbird. Er legt sich das Headset über die Ohren und zieht die Türe zu. Fabio startet den Motor. Es geht los.
«Perfekte Sicht», sagt Fabio und zieht die HB-KHG höher. Unter uns verschwindet die Küste von Malta hinter den wenigen Wolkenfetzen. In der Kabine ist es noch kalt, ich fröstle. Neben mir sitzt Sam, still in seine eigenen Gedanken versunken. Über das Headset lausche ich dem Gespräch zwischen Fabio und Ruben, die vorne sitzen. Sie fachsimpeln über die Technik im neuen Flugzeug. Eine Stunde dauert der Flug ins Suchgebiet. Dieses erstreckt sich über rund 1600 Quadratkilometer entlang der Zwölf-Meilen-Zone vor der libyschen Küste. Ruben dreht sich für das letzte Briefing zu Sam und mir nach hinten. Die Suche soll bei 900 Metern über Meer beginnen und weiter nach unten gehen, wenn die Sicht schlecht ist. «Jeder muss in seinem Sektor suchen und sobald jemand ein Ziel sieht, muss er darauf zeigen und es nicht mehr aus den Augen lassen», sagt er. Wir nicken. «Auf eine gute Mission», sagt Fabio und beginnt mit dem Sinkflug.
Mein Herz schlägt kräftig. Die Gespräche verstummen, der Motor rattert und dröhnt abgeschwächt durch die Kopfhörer. Alle schauen konzentriert aus dem Fenster nach unten aufs Meer. Hinten rechts ist mein Sektor. Ich drehe meinen Oberkörper zum Fenster. Meine Augen suchen dem Horizont entlang, durch die Mitte, dann direkt unter mir, dann wieder weiter hoch. Bei jeder Schaumkrone stockt mein Atem. Ist das ein Mensch, der da im Wasser treibt? Nein, ein Benzinkanister. Habe ich gut genug geschaut? Habe ich etwas übersehen? Wenn wir scheitern, wenn ich scheitere, werden Menschen sterben, denke ich. Die Sonne blendet. Ich beginne zu schwitzen. Fabio fliegt runter auf 300 Meter. Dann ruft Ruben: «Ziel auf 13 Uhr.»
«Das Schlimmste ist, dass ich von der Luft aus nicht mehr machen kann, als die Koordinaten durchzufunken. Es ist ein ohnmächtiges Gefühl, wenn ich unter mir Menschen sehe, deren Boot langsam sinkt und ich weiss, dass sie sterben werden», sagt Fabio. Er wendet das Flugzeug und steuert Richtung Norden. Beim Wegfliegen kippt er die Maschine von einer Seite zur anderen, so, als ob er den Flüchtlingen in den Booten winken wollte. «So zeige ich ihnen, wohin sie steuern müssen», sagt er. Dann zieht er das Flugzeug zurück auf 900 Meter.
Erst hier oben, von wo aus ich einen Überblick über die ganze Szenerie da unten habe, realisiere ich, was da gerade passiert: Ich sehe die libysche Küste und Flüchtlingsboote, die sich langsam auf die Zwölf-Meilen-Grenze zubewegen. Ich sehe ein NGO-Schiff, das den Flüchtlingsbooten entgegen fährt. Weiter hinten sehe ich aufsteigenden Rauch. Dort wird ein Holzboot verbrannt, nachdem die Menschen gerettet wurden. Ich sehe ein libysches Fischerboot, das ein leeres Schlauchboot abschleppt und zurück an Land bringt. Wenige Stunden später wird es mit neuen Menschen gefüllt zurück auf dem Meer sein. Ich sehe Menschen mit leuchtend roten Schwimmwesten, die es bereits in Sicherheit an Bord eines NGO-Schiffes geschafft haben. Von hier oben wirkt das Ganze surreal. Es ist, als würde ich auf ein Spielbrett hinunterschauen und den verschiedenen Figuren bei ihrer Performance zuschauen.
Am späteren Nachmittag sitzen wir wieder in der Burg auf der Terrasse. Noch immer stecken wir in dem orangen Overall. Die letzten Stunden haben Fabio, Sam und Ruben telefoniert und sich nach den verlorenen Booten erkundigt. 2036 Menschen konnten heute gerettet werden. 2036! An einem Tag! Im Gegensatz zu mir überrascht Ruben diese Zahl nicht. «Was wir hier haben, ist eine kontinuierliche Katastrophe. Wenn es ein Erdbeben gibt, dann braucht es einen Grosseinsatz und nach einer Weile ist es vorbei. Aber das hier geht nie vorbei.»
Wir tauschen uns aus, sprechen über Dinge, die uns durch den Kopf gehen, und darüber, was wir heute gesehen haben. Solche Gespräche seien wichtig, sagt Fabio. Um das Geschehene zu verarbeiten. Denn nicht selten erleiden Retter später ein Trauma, leiden unter Schlafstörungen und kommen nicht mehr los von dem, was sie auf dem Meer erlebt haben:
Unten in der Küche kocht die Sea-Watch-Crew Abendessen. Pasta, Salat, Früchte zum Nachtisch. Man ist es sich gewohnt, schnell, einfach, aber trotzdem lecker für viele Leute zu kochen. Die Pilotencrew bespricht den Einsatz von morgen. Weil heute die italienische Küstenwache nicht aufbrach, um die Flüchtlinge von den NGO-Schiffen abzuholen, mussten diese sich nun selber auf den Weg nach Sizilien machen. Denn ihre Ladeflächen sind allesamt voll. Diese Reise dauert über 24 Stunden. «Wer wird also morgen noch im Suchgebiet sein?», fragt Sam. Ruben denkt kurz nach und sagt: «Nur noch zwei kleine NGOs, die zusammen Platz für etwa 400 Personen haben.» Kommen also morgen wieder so viele Flüchtlinge wie heute, wird es eine Katastrophe geben. Galgenhumor macht sich breit. Die drei schauen sich an. Und lachen.
Anstatt die Gestrandeten, von denen die allermeisten keine Chance auf ein Flüchtlingsvisum haben, zurück nach Libyen zu bringen, "schleppen" die NGOs die Flüchtlinge nach Italien.
Laut dem sizilianischen Staatsanwalt Zuccaro arbeiten die NGO-Schiffe sogar direkt mit den Schleppern zusammen:
http://www.dailymail.co.uk/wires/afp/article-4437404/Italy-prosecutor-stirs-migrant-taxis-row-NGOs.html