Der Druck der Einkaufstouristen steigt: Migros und Co. verlieren 11 Milliarden
Um Touristen im Land zu halten, verweist man in der Schweiz gern auf wunderschöne Landschaften, Sicherheit und Lebensqualität. Bei einer bestimmten Art von Touristen stösst all dies jedoch auf taube Ohren. Diese lassen sich vom Hinweis auf die Vorzüge der Schweiz nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Diese Touristen sind keine gewöhnlichen Urlauber. Sie sind Einkaufstouristen. Für sie zählt nur eines: der Preis.
Früher gab es sie auf beiden Seiten der Grenze. Nach Deutschland fuhren sie, um Butter und Gemüse zu kaufen. Aus Deutschland kamen sie, um zu tanken und wegen der Schoggi und der Nudeln. Doch diese Zeiten sind vorbei. Nicht erst seit dem 15. Januar dieses Jahres, als die Schweizerische Nationalbank die Bindung des Frankens an den Euro aufgab und die Schweizer Währung daraufhin in die Höhe schoss. Aber seither erst recht.
Immer mehr Schweizerinnen und Schweizer werden seit Januar selbst zu Einkaufstouristen – und kaufen mehr und mehr jenseits der Grenze. Um satte sieben Prozent stiegen die Auslandseinkäufe zwischen Januar und Juli gegenüber dem gleichen Zeitraum im Vorjahr, rechnet die Credit Suisse vor – «ausgehend von einem ohnehin schon sehr hohen Niveau im Jahr 2014». Patricia Feubli, bei der Grossbank für den Detailhandel zuständig, geht davon aus, dass dieses Niveau bis Ende Jahr bestehen bleibt.
Elf Milliarden in diesem Jahr
«Der Wert der Auslandseinkäufe lag im Jahr 2013 bei rund zehn Milliarden Franken», sagt Feubli. In 2014 sei er konstant geblieben. «Sehr grob geschätzt, dürfte der Wert 2015 Richtung elf Milliarden gehen», so die CS-Frau.
Für die Detailhändler in der Schweiz seien diese ausbleibenden Einnahmen «sehr schmerzhaft», sagt Feubli. Denn immerhin handele es sich dabei um zehn Prozent des gesamten Detailhandelsumsatzes der Schweiz – diese betragen rund 100 Milliarden Franken.
Die Detailhändler spüren das besonders in unmittelbarer Nähe zum Ausland. «Die tieferen Preise wirken sich auf den Umsatz aus und in den grenznahen Regionen spüren wir die Folgen der Auslandeinkäufe», heisst es etwa bei Coop. Preisabschläge von rund 190 Millionen Franken habe man bisher verzeichnen müssen. Trotz des schwierigen Umfeldes habe man sich aber bisher gut behauptet, lässt Coop wissen.
Schneider-Ammann warnt
Unklar ist, was auf die Detailhändler in Sachen Einkaufstourismus noch alles zukommt. Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann gab am letzten Donnerstag im Ständerat einen Hinweis, wie schlimm es werden könnte: «Das Potenzial des Einkaufstourismus beläuft sich bis auf 30 Milliarden Franken», sagte er im Zuge der Debatte um die Regelung der Ladenöffnungszeiten. «Die Bewegungen über die Grenze können noch wesentlich zunehmen», warnte er. Das Risiko bestehe, «dass die Wertschöpfung ausserhalb und nicht innerhalb des Landes passiert».

Der Bundesrat sieht die hohen Preise hierfür verantwortlich. Deshalb müssten zur Bekämpfung der Hochpreisinsel «verschiedene Massnahmen verfolgt werden – unter anderem bei der Erleichterung von Parallelimporten», wie das Wirtschaftsdepartement mitteilt.
Laut Schneider-Ammann hat der florierende Einkaufstourismus in der Vergangenheit einen hohen Tribut gefordert: 6000 Stellen sind in den letzten vier Jahren im Detailhandel verloren gegangen. Die Zahl ist beim Bundesamt für Statistik (BfS) nachzulesen. Im Ständerat sagte der Wirtschaftsminister: Das sei darauf zurückzuführen, «dass man nicht mehr hier, sondern jenseits der Grenze shoppen geht».
Dennoch läuft derzeit nicht alles schlecht für die Detailhändler. Der in den letzten Monaten gegenüber dem Euro etwas schwächere Franken sollte den Einkaufstourismus zumindest ein wenig bremsen, sagt der UBS-Ökonom Dominik Studer. Mit 1.10 Franken zum Euro ist er jedoch noch weit davon entfernt, die grosse Masse dieser speziellen Touristen von ihren Kurztrips ins Ausland abzuhalten.
Der grösste Konkurrent von Coop und Migros sind nicht die Hard-Discounter Aldi und Lidl, sondern die Läden ennet der Grenze. Dort geben Schweizer Konsumenten im laufenden Jahr über 11 Milliarden Franken aus. Tendenz steigend. Daran ändert auch die leichte Franken-Erholung der letzten Wochen nur wenig. Nur ein Wechselkurs von Fr. 1.40 Franken pro Euro würde diese Entwicklung stoppen, sagen Experten.
Daran ändern auch die sicher gut gemeinten Warnungen des Schweizer Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann nichts, dass bald 30 Milliarden im Ausland ausgegeben werden. Daran ändern auch die schönen Sonntagsreden von anderen – bürgerlichen und linken – Politikern nichts, die die Hochpreisinsel Schweiz kritisieren. Denn es gibt in der Schweiz wirklich Menschen, die jeden Franken umdrehen müssen. Familien, Alleinerziehende, Ausgesteuerte Arbeitslose, Working Poor, Pensionierte. Diesen Menschen sind sogar die Billig-Linien der Detailhändler zu teuer.
Offenbar haben genau diese im Parlament keine Lobby. Anders ist es nicht erklärbar, wieso nicht längst die Agrarmärkte geöffnet werden, die Ladenöffnungszeiten liberalisiert, das Wettbewerbsrecht verschärft und die Parallel-Importe vereinfacht werden. Keiner wäre danach gezwungen, Genfood aus den USA zu konsumieren. Niemand müsste nur noch billigen Himbeersirup kaufen. Kein Ladenbesitzer wäre verpflichtet, bis 24 Uhr zu öffnen. Es reicht die blosse Androhung von Konkurrenz, die blosse Möglichkeit, parallel zu importieren.
Es muss eine echte Konkurrenz-Situation geschaffen werden. Erst dann sinken die Preise. Erst dann werden neue Angebote geschaffen. Die Aufhebung des Mindestkurses war ein Weckruf. Auch ans Parlament. Wir können uns nicht abkoppeln von der wirtschaftlichen Entwicklung in Europa, in der Welt. Dem müssten eigentlich jetzt nur noch Taten folgen.