Das Verbot der One-Love-Binde. Die bizarre «Heute fühle ich mich behindert»-Rede. Seine Auftritte als Anwalt Katars, wenn die Menschen- und Arbeiterrechte im Golfstaat hinterfragt werden. Sein Applaus während der WM-Pokalübergabe, als der Emir Lionel Messi in ein katarisches Gewand kleidet. Seine Eiertänze, wenn es um den Fonds geht, der die Familien der verunglückten WM-Arbeiter entschädigen soll.
Oder jüngst, als er ein brasilianisches Topmodel zur Botschafterin der Frauenfussball-WM erklärt, oder den zurückgetretenen Verbandspräsidenten Frankreichs, gegen den die Pariser Justiz wegen Belästigung von Frauen ermittelt, zu seiner rechten Hand macht. Und ausgerechnet «Visit Saudi», die Tourismusbehörde eines Landes, wo die Rechte der Frauen eingeschränkt sind, soll Hauptsponsor der Frauenfussball-WM werden.
Der Fifa-Präsident Gianni Infantino hat ein unverschämt sicheres Gefühl für Fettnäpfchen. Zumindest, wenn man es aus westlicher Optik betrachtet. Deshalb steht er hier in der Dauerkritik. Teilweise auch von Mitgliedern aus der eigenen Familie. Aber befürchten muss er deswegen nichts. Höchstens, dass ein paar Präsidenten europäischer Fussballverbände ihm in Kigali den Applaus verwehren.
Dabei dachten viele, Infantino böte Angriffsfläche genug, um ihn vom Thron zu stossen. Allein, dass sich die Europäer nicht auf einen Herausforderer oder eine Herausforderin verständigen konnten, es nicht mal versuchten, offenbart die Ohnmacht Europas im Weltfussball.
Was vor drei Monaten während der WM nicht nach Palastrevolution, aber doch nach Protest aussah, tönt heute so: Sich wie ein Elefant im Porzellanladen aufzuführen, bringt im Geflecht der Funktionärswelt aus gegenseitigen Abhängigkeiten am wenigsten. Wenn nicht schon vorher, so wurde den Fifa-kritischen Verbänden spätestens in Katar der Zahn gezogen. Deshalb sind die Zeiten, als die grossen Fussball-Nationen Europas die Spielregeln bestimmten, passé.
Keiner weiss das besser als Infantino selbst. Deshalb foutiert er sich darum, wie in Europa sein Tun und Wesen kommentiert wird. Er hat erkannt, dass nicht Europa wichtig für den Fifa-Präsidenten ist. Sondern die Wachstumsmärkte in Asien und der Golfregion. Länder also, die ähnliche Absichten verfolgen wie er selbst: Das Geld vermehren und die Macht ausweiten. Länder auch, die ihm den roten Teppich ausrollen, in denen er sich nicht mit Werten und Regularien auseinandersetzen muss, die ihm anderswo den Weg versperren.
Infantino erreicht seine Ziele. Die Fifa ist wie eine Gelddruckmaschine, nimmt pro Tag 5.2 Millionen Dollar ein – Tendenz stark steigend. Denn für den Zyklus 2023 bis 2026 rechnet man mit Einnahmen von 11 Milliarden. Von 2019 bis 2022 waren es 7.6 Milliarden. Da kann man sich schon mal grosszügig zeigen, den Verbänden fette Prämien auszahlen und die Mitglieder des Fifa-Rats für vielleicht drei Sitzungen pro Jahr mit 250'000 Dollar honorieren. Und zusätzlich ein Taggeld von ein paar hundert Dollar, obwohl die Fifa für Frühstück und Mittag- oder Abendessen aufkommt.
Geld, das Infantino – er verdiente letztes Jahr 3.6 Millionen Dollar – und der Fifa nicht wehtut. Aber Geld auch, das hilft, um kritische Stimmen zu besänftigen. Respektive: Dieses Geld hilft auch, einen möglichen Widerstand zu verhindern, weil ganz viele Verbände wahnsinnig glücklich sind mit Infantino.
Trotzdem ist Alexander Koch, der sowohl unter Sepp Blatter als auch unter Infantino als Sprecher in der Fifa-Zentrale gearbeitet hat, etwas erstaunt, dass es keiner gegen Infantino aufnehmen will. Aber er fragt auch: «Lassen wir mal die Sympathie beiseite. Was genau stört die Leute an Gianni Infantino?» Dass er mit Diktatoren (Wladimir Putin) und Unrechtsstaaten (Saudi-Arabien, Katar) gemeinsame Sache macht. Dass er die WM auf 48 Teams aufbläht. Dass er mit der Klub-WM die Champions League konkurrenzieren will. Dass er das letzte bisschen Seele, das dem Fussball geblieben ist, verkauft. Und zwar nach Saudi-Arabien, Katar, China oder sonst wohin, wo der Fussball primär für Sportswashing benutzt wird.
Ex-Fifa-Mann Koch versucht gar nicht erst, die Anklagepunkte zu entkräften. Stattdessen fragt er: «Hat sich irgendjemand aus Europa in den entsprechenden Gremien gegen Infantinos Pläne und Machenschaften gewehrt? Nein, weil sie wissen, dass sie nichts ausrichten können, weil sie nicht in der Mehrheit sind.»
Einzig die norwegische Verbandspräsidentin Lise Klaveness traut sich, Infantino die Stirn zu bieten. Beispielsweise vor einem Jahr beim Kongress in Doha, als sie in ihrer Rede die Fifa an ihre Vorbildfunktion erinnerte – in Fragen von Menschenrechten über Transparenz bis zur Anti-Diskriminierung. Eine Ungeheuerlichkeit in den Augen der Mehrheit im Saal. Und nun, ein Jahr später, raten Frau Klaveness selbst andere europäische Fussballverbände, den Fuss vom Gas zu nehmen.
Bleibt die Frage, wie die Haltung der Schweiz gegenüber Infantino ist. Verbandspräsident Dominique Blanc findet positive Punkte im Wirken des Fifa-Präsidenten. «Infantino fördert den Frauenfussball und treibt die Entwicklung wie den VAR und die Offside-Technologie voran. Die Fifa ist generell etwas transparenter geworden. Die Vergabe der WM ist demokratischer geworden, weil alle Verbände eine Stimme haben. Er will mehr Endrunden für die Nachwuchs-Nationalteams. Und die unbürokratische Covid-Hilfe von 1.5 Millionen Franken kam jedem Mitgliederverband und auch uns gelegen.»
Tönt nach grosser Zufriedenheit. Aber in einem Punkt sieht Blanc den Fifa-Präsidenten in der Bringschuld: beim Entschädigungsfonds, der die Familien von Arbeitsmigranten, die auf den WM-Baustellen in Katar verunfallt sind, finanziell unterstützen soll. «Wir, das sind der Schweizerische und neun weitere europäische Fussballverbände, werden beim Kongress bei Infantino darauf pochen, dass dieser Fonds umgesetzt wird.»
Und er ergänzt: «Wir haben eine klare Erwartungshaltung an die Fifa im Bereich Menschenrechte, dass diesen im Tun und Handeln Rechnung getragen wird. Und wir wünschen uns, dass die Fifa und die Uefa in diesen und in anderen Bereichen noch konstruktiver zusammenarbeiten.»
Ob der Walliser kurz vor seinem 53. Geburtstag ein offenes Ohr für den Entschädigungsfonds haben wird, ist offen und hängt von den Opportunitäten ab. Weniger offen ist indes, dass er mit der WM 2030, die nächstes Jahr vergeben wird, zum nächsten Giga-Wurf ansetzen will. Einerseits steht eine Dreierkandidatur mit Saudi-Arabien, Ägypten und Griechenland im Raum, einer WM auf drei Kontinenten, was es noch nie gegeben hat. Andererseits hat er schon mal die Idee aufgeworfen, Israel könnte mit den Nachbarstaaten die WM 2030 ausrichten.
Dieser Plan scheint aufgrund der politischen und gesellschaftlichen Spannungen äusserst abenteuerlich. Aber vielleicht hat Infantino einfach noch dieses eine Ziel: Den Gewinn des Nobelpreises, der seinem Vorgänger Sepp Blatter verwehrt blieb. (aargauerzeitung.ch)