In der Nacht auf Dienstag ist in Frankreich bei Dünkirchen ein Flüchtlingslager fast vollständig abgebrannt. Die Behörden gehen von Brandstiftung aus. Dem Brand vorausgegangen waren Zusammenstösse zwischen kurdischen und afghanischen Flüchtlingen. Einige der Bewohner wurden durch Messerstiche verletzt.
Watson hat mit Adrian* gesprochen, der bis letzte Woche noch in dem Camp als freiwilliger Helfer gearbeitet hat. Mittlerweile ist er zurück in der Schweiz. Er erzählt von der Schmugglermafia, der Hilflosigkeit unter den Bewohnern und der schwierigen Position der Helfer.
Adrian*, Sie haben gestern erfahren, dass das Flüchtlingscamp bei Dünkirchen abgebrannt ist. Hat Sie diese Nachricht überrascht?
Adrian*: Natürlich war ich schockiert. Doch jeder im Flüchtlingslager wusste von den Spannungen, die in den letzten Wochen und Monaten immer stärker aufgekommen sind. Irgendwann musste es so kommen.
Was waren das für Spannungen?
Seit letztes Jahr das Flüchtlingscamp in Calais geschlossen worden war, kam eine grosse Gruppe von afghanischen Flüchtlingen in unser Camp. Vorher waren hier eigentlich nur kurdische Flüchtlinge stationiert. In der Vergangenheit gab es auch an anderen Orten immer wieder Spannungen zwischen diesen beiden Gruppen. Gefährlich wird das besonders dann, wenn zwei Schmugglerorganisationen aufeinandertreffen. Ich habe in meinen zwei Monaten sogar eine Schiesserei zwischen zwei solchen Banden miterlebt.
Schmugglerorganisationen?
Es gibt vermutlich in jedem Flüchtlingslager solche Gruppen. Bei uns war dieses Geschäft in den Händen der Kurden. Diese haben Kontakte zu Lastwagenfahrern und Containerschiffen, die die Flüchtlinge nach England bringen sollen. Diese Kontakte bieten sie den Flüchtlingen für viel Geld an. Sie bringen aber auch Alkohol, Drogen und Waffen ins Camp.
Habt ihr diese Geschäfte denn nicht unterbunden?
Das ist fast unmöglich. Dafür haben wir viel zu wenig Personal und Ressourcen. Das müsste schon die Polizei machen, doch denen scheinen diese Geschäfte wenig zu stören. Ausserdem helfen diese organisierten Gruppen uns bei der Kommunikation mit den anderen Flüchtlingen und auch bei den vielen Arbeiten, die im Camp anfallen. Reparaturen zum Beispiel, manche helfen auch in der Küche aus.
Wie viel verlangen diese Schmuggler für eine Überfahrt?
Es gibt drei Pakete. Das günstigste kostet etwa 4000 Euro. Dafür erhält man einen Tipp, wo die Lastwagen halten. Hier ist aber kein sicherer Platz enthalten. Das zweite kostet bis zu 8000 Euro. Dafür wird der Lastwagenfahrer informiert, dass er Flüchtlinge transportieren wird. Aber auch hier hat man noch keinen sicheren Platz. Für 12'000 Euro kann man schliesslich einen Platz auf einem Containerschiff nach England buchen. Dieser ist etwa zu 90 Prozent sicher.
Wer macht von diesen Angeboten gebrauch?
Alle wollen nach England. Sie wollen raus aus dem Camp. Hier scheint die Zeit stillzustehen. Man kommt nicht vorwärts und viele langweilen sich. Die meisten probieren die Überfahrt auf eigene Faust. Am Abend sieht man dann, wie Hunderte mit Rucksack und Koffern das Camp verlassen. Sie werden aber in den meisten Fällen an den Häfen oder in den Zügen von der Polizei abgefangen und zurück geschickt. Zu Fuss. Die Menschen, zum Teil Familien mit Kindern, kehren dann am Morgen völlig erschöpft ins Camp zurück.
Kommt die Polizei auch in das Camp?
Im Dezember wollte die Polizei eine Razzia durchführen, die Bewohner haben aber Widerstand geleistet, bis die Polizisten wieder abgezogen sind. Im Camp selber gibt es keine Polizei, sondern einen Sicherheitsdienst, der ab und zu patrouilliert. An den Eingängen kontrolliert die «Compagnies Républicaines de Sécurité» (CRS). Diese rücken auch an, wenn es Auseinandersetzungen im Camp gibt oder einen Aufstand.
Ist das oft der Fall?
Eher nicht. Grundsätzlich kontrollieren sich die Flüchtlinge selbst. Kurden und Afghanen gehen einander aus dem Weg, sie bewohnen sogar verschiedene Teile des Lagers. Manchmal können wir Helfer Auseinandersetzungen vorbeugen, in dem wir aufkommende Konflikte direkt vor Ort klären. Einmal haben aber einige der Flüchtlinge das Tor von Aussen gestürmt und die CRS haben mit Tränengas geantwortet. Am Schluss stand das ganze Lager vor den Toren und hat die Polizei mit Steinen beworfen. Solche Ausschreitungen gilt es möglichst zu verhindern.
Kommt es auch zu Übergriffen auf Helfer?
Gewalttätig gegenüber Helfern werden die Flüchtlinge eigentlich nie. Manchmal sind sie frustriert oder betrunken. Dann können sie schon einmal ausfällig werden. Sie werden aber in den allermeisten Fällen von anderen Flüchtlingen beruhigt.
Was sind denn die grössten Probleme in solchen Lagern?
Die vielen Menschen hier haben einfach nichts zu tun. Es sind viele junge Männer zwischen 15 und 25, also in meinem Alter, die einfach den ganzen Tag zum Herumhängen verdammt sind. Hinzu kommt noch der Alkohol. Die Flüchtlinge, meistens stammen sie aus muslimischen Ländern, haben keine Erfahrungen mit Alkohol gemacht und sind weniger sensibilisiert. Weiter müsste die Organisation Afeji, die für die Instandhaltung des Camps vom Staat bezahlt wird, mehr Ressourcen in die Instandhaltung des Geländes stecken.
Beschäftigung würde also helfen?
Sehr. Es gibt zum Beispiel ein Womens-Center oder ein Children-Center, wo Frauen und Kinde den Tag unter sich verbringen können. Das es solche Zentren gibt, ist super. Doch für den Grossteil des Camps, der wie gesagt aus jungen Männern besteht, gibt es so etwas nicht. Das ist ein echtes Problem.
Trotzdem würdest du wieder gehen?
Ja. Leider kann ich jetzt nicht mehr in das Camp zurück, da es in der näheren Zukunft wohl kaum wieder aufgebaut wird. Ich werde aber in ein anderes Flüchtlingslager gehen oder vielleicht an die italienische Grenze. Es war trotz den vielen traurigen Schicksalen und arbeitsintensiven Wochen eine sehr gute Erfahrung. Diese möchte ich gerne fortsetzen.
Wohin gehen die Flüchtlinge, die im abgebrannten Lager untergebracht waren?
Viele wurden provisorisch in Turnhallen untergebracht. Andere direkt in andere Lager verlegt. Vermutlich wird das schlussendlich allen so ergehen.
*Name der Redaktion bekannt