Schweiz
Feminismus

Ernüchternder Bericht: Die Schweiz macht zu wenig für Schutz von Frauen

Ernüchternder Bericht: Die Schweiz versagt beim Schutz von Frauen

Verzettelt, unkoordiniert und unterfinanziert. So lautet das Fazit zur Umsetzung der Istanbul Konvention nach sieben Jahren. Die Schweiz hat sich mit der Ratifizierung verpflichtet, Opfer vor häuslicher und sexueller Gewalt zu schützen. Diese Bereiche sind besonders kritisch.
29.10.2025, 04:5029.10.2025, 05:41
Anna Wanner / ch media

Die dreistellige Notrufnummer 142 hätte ab diesem November Gewaltopfern niederschwellig Hilfe leisten sollen. Daraus wird vorerst nichts. Trotz fünfjähriger Vorbereitung verzögert sich die Inbetriebnahme der Nummer um mindestens ein halbes Jahr.

Das ist ärgerlich, weil die Hilfe ausbleibt.

Die Verzögerung zeigt aber auch exemplarisch, was bei den Massnahmen zum Schutz vor Gewalt falsch läuft: Die zentrale Notrufnummer war eigentlich Teil der Präventionskampagne, die jetzt im November startet. Kurzfristig musste die Kampagne wegen der Verzögerung neu konzipiert werden.

Gleichzeitig rechnen Opferberatungsstellen aufgrund der Kampagne mit mehr Anfragen und einem erhöhten Bedarf an Schutzplätzen.

Doch auch in diesem Fall hat die Politik nicht mitgedacht: Die Finanzierung zusätzlicher Beratungen und neuer Plätze regeln eigentlich die Kantone – oder in diesem Fall eben nicht. «Es fehlt eine koordinierte und strategische Abstimmung», schreibt das Netzwerk Istanbul Konvention, das eng begleitet, wie die Massnahmen zum Schutz vor sexualisierter Gewalt umgesetzt werden. Am Dienstag hat es einen 220-seitigen Bericht veröffentlicht, der die Erfahrung und Expertise von über hundert Organisationen zusammenträgt. Sie bilden zusammen das Netzwerk Istanbul Konvention.

Die Kerngruppe des Netzwerks Istanbul Konvention: von links Barbara Lienhard, Blertë Berisha, Julia Meier, Alexandra Gnägi, Anna-Béatrice Schmaltz und Isabel Vidal Pons.
Die Kerngruppe des Netzwerks Istanbul Konvention präsentierte den Bericht zu den Massnahmen in der Schweiz und vergab die Note ungenügend: von links Barbara Lienhard, Blertë Berisha, Julia Meier, Alexandra Gnägi, Anna-Béatrice Schmaltz und Isabel Vidal Pons.Bild: zvg

Versprechen auf ein gewaltfreies Leben

Die Schweiz hat 2018 die Istanbul Konvention ratifiziert, ein Übereinkommen des Europarats. Sie verpflichtete sich, Frauen besser zu schützen und Gewalt zu verhindern. Zum zweiten Mal erhält die Schweiz die Note ungenügend. Das Netzwerk erteilt den Behörden die Schulnote 3.

Die Bilanz liest sich ernüchternd. Trotz einzelner Fortschritte beim Opferschutz erfüllt die Schweiz ihre zentralen Verpflichtungen weiterhin nicht. Als Grund nennt der Bericht vor allem «ungenügende finanzielle Ressourcen, ein Flickenteppich kantonaler Zuständigkeiten und ein fehlender intersektionaler Ansatz».

Julia Meier, die zum Kernteam des Netzwerks Istanbul Konvention gehört, erklärt am Dienstag vor den Medien:

«Die Bewertung 3 ist das Resultat einer Politik, die unseren Schutz und unsere Sicherheit nicht ernst nimmt.»

Von miserabel bis besorgniserregend

Mit der detaillierten Benotung wird der Finger auf besonders vernachlässigte Bereiche gelegt. So sei die Gesamtstrategie «miserabel», sagt Alexandra Gnägi, die ebenfalls zum Kernteam gehört. Sie erteilt der Gesamtstrategie die Note 2,5. Das Eidgenössische Büro für Gleichstellung leiste zwar wichtige Arbeit, sagt Gnägi. Es sei aber zu schwach aufgestellt. Damit spricht sie einen weiteren prekären Punkt an: Die Finanzierung erhält Note 2. So sind laut Gnägi viele Stellen, Beratungen und Frauenhäuser unterfinanziert.

Als «besorgniserregend» klassifiziert das Netzwerk schliesslich den Kindesschutz mit Note 1,5. Von häuslicher Gewalt seien häufig auch Kinder betroffen, sagt Gnägi. Doch bei Trennungen oder Aufteilung elterlicher Sorge fehle eine systematische Gefährdungseinschätzung.

«Der Schutz der Kinder passiert meist zufällig.»

Daraus leiten die Expertinnen auch konkrete Forderungen ab. Ohne Finanzierung und ohne nachhaltige Gesamtstrategie bleibe die Istanbul Konvention ein Versprechen auf dem Papier.

SP und Grüne geben der Forderung Schub

Die hohe Zahl an Femiziden und die Zunahme an Gewalt gegen Frauen gehen nicht spurlos an der Politik vorbei. Innenministerin Elisabeth Baume-Schneider hat drei konkrete Massnahmen vorgelegt, die nun vor der Umsetzung stehen. So sollen mehr Schutzplätze zur Verfügung stehen und das Risiko von Trennungen frühzeitig adressiert werden. Auch Justizminister Beat Jans begleitet das Thema eng, er hat letzte Woche Zürcher Angebote für Opfer angeschaut.

Unterstützung erhalten die beiden Bundesräte von der eigenen Partei. Die SP hat angekündigt, eine Initiative zum besseren Schutz vor geschlechtsspezifischen Gewalt zu lancieren. Die Grünen gehen den parlamentarischen Weg und wollen einen nationalen Finanzierungsfonds schaffen, damit Frauenhäuser und Schutzangebote nicht länger von den Launen kantonaler Budgets abhängen. Das Ziel ist klar: Das Recht auf ein Leben ohne Gewalt soll in der Schweiz kein leeres Versprechen bleiben. (aargauerzeitung.ch)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
Du hast uns was zu sagen?
Hast du einen relevanten Input oder hast du einen Fehler entdeckt? Du kannst uns dein Anliegen gerne via Formular übermitteln.
161 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Eiche
29.10.2025 07:44registriert März 2023
Häusliche Gewalt kündigt sich oft an. Die Zeichen sind da. Oft wissen verschiedene Behörden Bescheid, teilen dieses Wissen aber nicht, und niemand handelt. Ein Gesetz, das das Teilen der Daten unter Behörden obligatorisch macht und klare Verantwortungen zuweist, kann schon viel bewirken.
7312
Melden
Zum Kommentar
avatar
Bruno Meier (1)
29.10.2025 07:37registriert Juni 2018
Wenn ich die Namen google, sehe ich, dass diese Personen selbst ein Teil des Systems/Verwaltung sind, welches sie anprangern. Und ihre Lösung ist, dieses System mit noch mehr Geld noch mehr aufzublasen. Noch komplexer und noch mehr Entscheidungsträger einzubauen.

Niemand von diesen Personen kommt je auf die Idee, den umgekehrten Weg zu gehen. Schlanke Strukturen, mehr Verantwortung den einzelnen Personen übertragen, aber diese Personen müssen dann auch die Konsequenzen dafür tragen, sind persönlich dafür verantwortlich.

Es ist eben die einfache Lösung, mehr Ressourcen zu fordern.
9754
Melden
Zum Kommentar
avatar
Monopoly
29.10.2025 08:06registriert April 2025
Kenne eine die im Frauenhaus damals im Studium ein Praktikum machte..
Naja was soll ich sagen, mehrheitlich waren es andere Kulturen die kamen. Natürlich gibt es auch Schweizer die leider häusliche Gewalt anwenden, allerdings mehrheitlich leider Menschen mit anderen Kulturellen Hintergründe.
9452
Melden
Zum Kommentar
161
Stadt Luzern will 1100 günstige Wohnungen ermöglichen
Die Stadt Luzern will mehr Einfluss auf den Immobilienmarkt nehmen, um den Anteil günstiger Wohnungen zu erhöhen. Sie soll sich ein Vorkaufsrecht sichern und Liegenschaften erwerben, eine Wohnbaustiftung gründen und Darlehen an Wohnbaugenossenschaften vergeben.
Zur Story