Ernüchternder Bericht: Die Schweiz versagt beim Schutz von Frauen
Die dreistellige Notrufnummer 142 hätte ab diesem November Gewaltopfern niederschwellig Hilfe leisten sollen. Daraus wird vorerst nichts. Trotz fünfjähriger Vorbereitung verzögert sich die Inbetriebnahme der Nummer um mindestens ein halbes Jahr.
Das ist ärgerlich, weil die Hilfe ausbleibt.
Die Verzögerung zeigt aber auch exemplarisch, was bei den Massnahmen zum Schutz vor Gewalt falsch läuft: Die zentrale Notrufnummer war eigentlich Teil der Präventionskampagne, die jetzt im November startet. Kurzfristig musste die Kampagne wegen der Verzögerung neu konzipiert werden.
Gleichzeitig rechnen Opferberatungsstellen aufgrund der Kampagne mit mehr Anfragen und einem erhöhten Bedarf an Schutzplätzen.
Doch auch in diesem Fall hat die Politik nicht mitgedacht: Die Finanzierung zusätzlicher Beratungen und neuer Plätze regeln eigentlich die Kantone – oder in diesem Fall eben nicht. «Es fehlt eine koordinierte und strategische Abstimmung», schreibt das Netzwerk Istanbul Konvention, das eng begleitet, wie die Massnahmen zum Schutz vor sexualisierter Gewalt umgesetzt werden. Am Dienstag hat es einen 220-seitigen Bericht veröffentlicht, der die Erfahrung und Expertise von über hundert Organisationen zusammenträgt. Sie bilden zusammen das Netzwerk Istanbul Konvention.
Versprechen auf ein gewaltfreies Leben
Die Schweiz hat 2018 die Istanbul Konvention ratifiziert, ein Übereinkommen des Europarats. Sie verpflichtete sich, Frauen besser zu schützen und Gewalt zu verhindern. Zum zweiten Mal erhält die Schweiz die Note ungenügend. Das Netzwerk erteilt den Behörden die Schulnote 3.
Die Bilanz liest sich ernüchternd. Trotz einzelner Fortschritte beim Opferschutz erfüllt die Schweiz ihre zentralen Verpflichtungen weiterhin nicht. Als Grund nennt der Bericht vor allem «ungenügende finanzielle Ressourcen, ein Flickenteppich kantonaler Zuständigkeiten und ein fehlender intersektionaler Ansatz».
Julia Meier, die zum Kernteam des Netzwerks Istanbul Konvention gehört, erklärt am Dienstag vor den Medien:
Von miserabel bis besorgniserregend
Mit der detaillierten Benotung wird der Finger auf besonders vernachlässigte Bereiche gelegt. So sei die Gesamtstrategie «miserabel», sagt Alexandra Gnägi, die ebenfalls zum Kernteam gehört. Sie erteilt der Gesamtstrategie die Note 2,5. Das Eidgenössische Büro für Gleichstellung leiste zwar wichtige Arbeit, sagt Gnägi. Es sei aber zu schwach aufgestellt. Damit spricht sie einen weiteren prekären Punkt an: Die Finanzierung erhält Note 2. So sind laut Gnägi viele Stellen, Beratungen und Frauenhäuser unterfinanziert.
Als «besorgniserregend» klassifiziert das Netzwerk schliesslich den Kindesschutz mit Note 1,5. Von häuslicher Gewalt seien häufig auch Kinder betroffen, sagt Gnägi. Doch bei Trennungen oder Aufteilung elterlicher Sorge fehle eine systematische Gefährdungseinschätzung.
Daraus leiten die Expertinnen auch konkrete Forderungen ab. Ohne Finanzierung und ohne nachhaltige Gesamtstrategie bleibe die Istanbul Konvention ein Versprechen auf dem Papier.
SP und Grüne geben der Forderung Schub
Die hohe Zahl an Femiziden und die Zunahme an Gewalt gegen Frauen gehen nicht spurlos an der Politik vorbei. Innenministerin Elisabeth Baume-Schneider hat drei konkrete Massnahmen vorgelegt, die nun vor der Umsetzung stehen. So sollen mehr Schutzplätze zur Verfügung stehen und das Risiko von Trennungen frühzeitig adressiert werden. Auch Justizminister Beat Jans begleitet das Thema eng, er hat letzte Woche Zürcher Angebote für Opfer angeschaut.
Unterstützung erhalten die beiden Bundesräte von der eigenen Partei. Die SP hat angekündigt, eine Initiative zum besseren Schutz vor geschlechtsspezifischen Gewalt zu lancieren. Die Grünen gehen den parlamentarischen Weg und wollen einen nationalen Finanzierungsfonds schaffen, damit Frauenhäuser und Schutzangebote nicht länger von den Launen kantonaler Budgets abhängen. Das Ziel ist klar: Das Recht auf ein Leben ohne Gewalt soll in der Schweiz kein leeres Versprechen bleiben. (aargauerzeitung.ch)
