Auf dem Weg zum Brexit wird das britische Parlament heute oder morgen eine wegweisende Entscheidung treffen. Vorausgesetzt, Parlamentsprecher John Bercow gibt grünes Licht, könnte Premier Boris Johnson das Unterhaus noch heute Abend über seinen mit Brüssel verhandelten Austritts-Deal abstimmen lassen. Sagen die Abgeordneten Ja, würde Grossbritannien doch noch geordnet die EU verlassen. Sagen sie Nein, droht ein chaotischer Austritt.
Die Chancen für den Regierungschef stehen nicht schlecht. Britische Medien räumen Johnson realistische Möglichkeiten ein, seinen Deal durchs Parlament zu bringen. Seiner Vorgängerin Theresa May blieb das in drei Anläufen mit jeweils klarer Mehrheit verwehrt – vor allem wegen der Gegenwehr in ihrer eigenen Partei, auch wegen der Gegenwehr von Johnson.
Allerdings dürfte die Abstimmung äusserst knapp ausfallen. Die Lager von Befürwortern und Gegnern des vorliegenden Vertragsentwurfs werden nahezu gleich gross geschätzt.
Johnson braucht für einen Sieg die Unterstützung von 320 Parlamentariern. Die erhält er nur, wenn sich auch Vertreter der Opposition hinter ihn stellen. Wer steht also wo?
Das Schicksal von Theresa May wird Boris Johnson wohl nicht ereilen: Er weiss die Fraktion der Torys geschlossen hinter sich. Hinzu könnten auch zahlreiche jener Abgeordneten kommen, die Anfang September noch im Streit aus der Konservativen Partei geworfen wurden, weil sie ein Gesetz gegen den No-Deal-Brexit unterstützt hatten.
Offen ist vor allem, ob und wie viele Stimmen Boris Johnson von der oppositionellen Labour-Partei bekommt. Nur wenn Johnson einige von ihnen von dem Deal überzeugen kann, hat er überhaupt eine Chance auf eine Mehrheit. Die Zeitung «The Guardian» rechnet mit acht, die BBC mit zehn Abgeordneten, die von der Linie von Labour-Chef Jeremy Corbyn abweichen. Wenn das so kommt, könnte es für Johnson reichen.
Der Labour-Abgeordnete John Mann hatte bereits am Freitag seine Zustimmung zu dem Vertragsentwurf bekundet. «Es ist ein Abkommen, das mit der Europäischen Union vereinbart wurde und das beiden Seiten gerecht wird. Das befriedigt mich», sagte er. Sein Parteikollege Jim Fitzpatrick erklärte, eine Zustimmung zu dem Abkommen mache den Weg frei für Neuwahlen, bei denen nicht mehr der Brexit, sondern endlich wieder innenpolitische Themen auf der Agenda stünden.
Labour-Chef Corbyn warnte mit Blick auf Johnsons Brexit-Deal vergangene Woche vor einem Ausverkauf von Arbeitnehmerrechten und Umweltstandards. Seine Partei teilt diese Einschätzung überwiegend, allerdings nicht geschlossen, weshalb eben einige Abgeordnete mit dem Premier stimmen könnten.
Klarer sind die Positionen bei den Liberaldemokraten, den schottischen Nationalisten (SNP), oder den nordirischen Unionisten (DUP), die den Deal geschlossen ablehnen.
Die DUP stellt mit Johnsons Torys eigentlich die Regierung, fürchtet aber neue Handelsbarrieren zwischen Nordirland und dem britischen Festland, sollte der vorliegende Vertrag in Kraft treten. Nur deshalb muss Johnson überhaupt auf die Opposition hoffen.
Die Chefin der Liberaldemokraten, Jo Swinson, schrieb in einem Gastbeitrag für die Zeitung «Independent» am Wochenende, jeder Brexit-Deal sei ein schlechter Brexit-Deal. Dieses Abkommen aber drohe Grossbritannien wirtschaftlich ähnlichen Schaden zuzufügen wie die Finanzkrise 2008.
Der Fraktionschef der schottischen SNP, Ian Blackford, schimpfte, Johnson wolle die Schotten auf Kreuz legen.
Von Liberaldemokraten, SNP und DUP kann Johnson keine Stimme erwarten.
Boris Johnson benötigt die Stimmen von 320 Abgeordneten, um seinen Vertragsentwurf durchs Parlament zu bringen. Der «Guardian» prognostiziert, dass der Premier mit genau dieser Anzahl Stimmen rechnen kann. Die BBC ist da vorsichtiger. Sie zählte 310 Unterstützer für den Vorschlag der Regierung und 302 Gegner. 27 Abgeordnete seien noch unentschlossen. Wackelkandidaten sind laut der BBC vor allem die ehemaligen Tory-Abgeordneten sowie bis zu zwölf Vertreter von Labour.
Aber das kann noch dauern....
„Vielleicht wäre es mittlerweile einfacher, die EU kurz aufzulösen und ohne Großbritannien neu zu gründen.“