Eigentlich kam es nicht weiter überraschend. Im Foyer des Bezirksgerichts Zürich ging kurz nach 8 Uhr morgens das Gerücht um, dass es heute später werden könnte. Die «Zuführung» gestalte sich schwierig, raunt es über die Marmorplatten hinweg, als ginge es um einen Diensthund oder ein Zirkustier. Die Behördensprache erinnert hie und da unangenehm an eine Dressur.
Dann, nach einer halben Stunde war klar: Der 24-Jährige Brian K., der wegen zahlreicher Delikte, unter anderem schwere Körperverletzung, Sachschaden und Gewalt und Drohung gegen Beamte angeklagt war, zog es vor, nicht zu erscheinen. Brian, Carlos, Mike, das ewige Phantom, der renitente Straftäter, Teufel, Monster, Justizschreck hatte es wieder einmal getan: Der Justiz ein Schnippchen geschlagen. Eine weiteres Scharmützel in diesem grossen, ewigen Krieg, der wie jeder Krieg nur Verlierer kennt.
Der Gerichtsvorsitzende, Marc Gmünder, rote Krawatte, gestärkter Hemdkragen, erklärte geduldig, was sich an diesem Morgen zugetragen hatte: Eine Sondereinheit der Polizei, die EG Diamant, hatte den Auftrag, Brian K. von seiner Zelle in der JVA Pöschwies nach Zürich zu bringen. Brian empfing die Polizisten mit lauter Musik und erhobenen Fäusten, bereit zum Kampf. Dass keine Gewalt angewendet würde, darüber hatte man sich bei den Behörden vorgängig geeinigt. «Wir wollten ihn nicht mit Händen und Füssen hierher schleifen.» Hätten sie es getan, Staatsanwalt Ulrich Krättli hätte sich gleich wieder ans Verfassen einer weiteren Anklageschrift machen können. Das Eskalationsrad wäre eine Umdrehung weiter und die Medien um um eine Schlagzeile reicher gewesen.
Carlos, oder Brian K., wie er richtig heisst, und wie er genannt werden will, ist aktuell wohl der bekannteste Gefängnis-Insasse der Schweiz. Das Medieninteresse war dementsprechend hoch, gut 20 Journalisten fanden sich ein, ebensoviele Zuschauer hofften, einen der wenigen Sitzplätze im Saal zu ergattern. Das Bezirksgericht Dielsdorf entschied im Vorfeld, die Verhandlung nach Zürich zu verlegen. Aber auch hier musste ein Grossteil der Zuschauer abgewiesen werden. Der altehrwürdige Täfersaal bietet nicht mehr als 30 Personen Platz.
Die Polizei redete sich also am Mittwochmorgen eine halbe Stunde in der pinken Isolationszelle den Mund fusselig, Carlos legte sich irgendwann hin und blieb stumm, und die Polizisten zogen unverrichteter Dinge wieder ab. Dem Gerichtspräsidenten erging es im Anschluss gleich. So fand der Prozess ohne Brian statt. Und vielleicht war das gar keine ungünstige Ausgangslage. Für die gut 20 Medienschaffenden und 15 Zuschauer, die sich auf den denkmalgeschützten Holzbänken niederliessen, war es allerdings eine herbe Enttäuschung.
Einigen von ihnen war Brian wohl auf eine seltsame Weise ans Herz gewachsen, ein verknorzter Cousin, unheilbar und anstrengend, aber halt doch vertraut. Die Verkörperung aller ungeliebten Eigenschaften im Menschen, Eigenschaften, die jeder hat, aber keiner haben will. Ein narzisstischer Winkelried, der sich heldenhaft für sich selbst opfert. Für andere ist er der personifizierte «Sozialwahn», eine Geldvernichtungsmaschine auf zwei Beinen, die den Rechtstaat seit Jahren zum Narren hält oder ihm eins aufs Jochbein gibt mit der linken Geraden.
Jedenfalls spielt Brian als Carlos seit nun sechs Jahren eine Rolle im hiesigen Justiztheater, die niemand anders ausfüllen kann oder will: Die des Unbändigenden, des Starrköpfigen, des muskelbepackten Querulanten.
Der Gerichtspräsident, der am Morgen Carlos selber noch zu überzeugen versuchte, sagte, eine Chance sei verpasst worden. Es fragt sich, welche Chance er meinte. Und ob es überhaupt noch Chancen gibt für einen wie ihn. Viele hat er vergeben, viele waren ihm genommen worden, und allzu viele hatte er von Anfang nicht. In der Summe ergibt das weniger als null.
Brian K. schwieg also, seine Worte aber wurden trotzdem gehört. Der Richter zitierte aus einem Brief von K. an den Staatsanwalt Ulrich Krättli. Kein freundlicher Brief. Im Gegenteil. Eine Mischung aus Gangsta-Rap und Rotwein-Krakeel, den man in Zürich heute noch manchmal hört in den Seitenstrassen des Chreis Cheib oder vor einschlägigen Denner-Filialen. Eine willkürliche Aneinanderreihung von grössenwahnsinnigem Gebrabbel. Derart überbordend, dass man schmunzeln muss.
Denkt man sich einen Singsang hinzu, einen Rhythmus und einen Beat, die Suada wäre nicht weit entfernt vom aktuellen Grossmaul-Gehabe im Deutsch-Rap.
[...] Ich bin der Baba, der asoziale Boss, der Chefdiktator, the baddest man on planet, smart and big. Eure Gefängnisse machen mir nichts. Ich bin ein Killer, ein Auftragskiller, ein Hitman. Ihr machtlosen Schwänze könnt mir nichts. Ich bin gefährlich, weil ich so gut aussehe. Ich will den Kampf, bin de bösischti Mensch auf diesem Planeten, der schönste und stärkste. Fuck the Justiz, ihr könnt mir nichts, ich habe euch schon immer gefickt.
Anwalt Häusermann, dunkler schwarzer Anzug, die high-pitched Stimme immer am Kipppunkt, meinte in seinem vierstündigen Monster-Plädoyer beschwichtigend, das sei nun einmal die Sprache des Vollzugs, da lerne man nicht, jemanden mit «sehr geehrter» Herr anzusprechen. Für das Bürgertum sei das nicht immer verständlich. Man meint den Anflug eines gequälten Lächelns zu sehen im Gesicht von Richter Gmünder (FDP).
Für die Aufseher in den Anstalten war Brian K.s Ghetto-Slang offenbar mehr, als sie gewohnt waren. Mehr als ein Dutzend Drohungen und Beschimpfungen sind in der Anklageschrift aufgeführt. Brian K. beleidigte und bespuckte Aufseher, biss und kratzte und drohte ihnen, sie mit Urin zu übergiessen.
Der Körper von Brian K. wurde schon oft zum Gegenstand von Spekulationen und Mutmassungen. Aber was geht in seinem Kopf vor? Der Gutachter Henning Hachtel, ein dünner Mann mit starrem Blick und geradem Rücken, Psychiater der Universitären Kliniken Basel, diagnostizierte eine dissoziale Persönlichkeitsstörung mit ausgeprägt psychopathischen Wesenszügen. Brian K. sei narzisstisch, leicht zu kränken und leide an ADHS.
Eine Therapie sei zwar denkbar, aber sehr unwahrscheinlich. Die Erfolgsaussichten für eine stationäre Massnahme, die sogenannte kleine Verwahrung, verschwindend gering. Es ist eine Beobachtung aus der Distanz, ein Aktenstudium. Untersuchen liess sich Brian nie. Ein anderes Gutachten wurde erstellt, indem ein Gutachter stundenlang Videobänder anschaute, Brian im besten Sinne begutachtete und studierte. Für Anwalt Häusermann eine «unzulässige Überwachungsmassnahme.»
Das Verhältnis zur Psychiatrie und zu Therapeuten sei angesichts der Vorgeschichte des 24-Jährigen dauerhaft gestört, sagt Anwalt Häusermann. K. habe Angst vor Psychiatern, was nicht weiter verwunderlich sei: Mit 10 Jahren wurde er in Handschellen aus dem Elternhaus abgeführt, mit 11 wurde er von Polizisten zu Boden gedrückt, und mit einer Spritze in den K.o.-Modus heruntersediert, mit 15 wurde er 13 Tage lang zwangsfixiert. Einen Zombie habe man damals aus seinem Mandanten gemacht, sagt sein Verteidiger.
Im Zentrum der Anklage steht ein Fall von versuchter schwerer Körperverletzung. Wie ein wildes Tier sei er auf die Aufseher im Gefängnis Pöschwies losgegangen, als sie ihm eröffnet hatten, dass er vom Normalvollzug wieder in die Sicherheitsabteilung verlegt werde. Überhaupt wurde in diesen sechs Jahren Fall Carlos nicht mit Tier-Analogien gespart. Rechtsanwalt Häusermann beklagt, dass über seinen Mandanten immer in Superlativen gesprochen und mit fragwürdigen Vergleichen operiert werde. Und macht es doch auch, wenn er Brian K. mit einem Hund vergleicht, der wegen schlechter Behandlung zubeisst. «Jedes Tier wehrt sich, wenn man es so behandelt.»
Ein Hund, der bellt und beisst. Ein Krieger, ein Zombie. De bösischti Mensch ufem Planet, ein Maximal-Mensch, Über-Wesen. Und gleichzeitig ein Tier, oder ein Halbmensch, dem das Gehirn fehlt und den der Hunger treibt. Alles und nichts gleichzeitig, ein gespaltenes Atom oder Anti-Materie. Ein armer Killer, der auf das falsche Ziel angesetzt wurde: Das System.
In der Illustration des Gerichtszeichners erscheint er als weisse Fläche mit schwarzen Umrissen, an den Oberarmen sind die typischen Muskel-Schwellungen angedeutet. Vielleicht ist das die genauste Darstellung, die aus der Distanz möglich ist.
Die Vorfälle, um die es in dieser Verhandlung geht, sind nüchtern und für sich gesehen keine gröberen Delikte (bei der schweren Körperverletzung handelt es sich um einen Versuch). Aber in ihrer Aneinanderreihung und in Kombination mit der Historie könnten sie dazu führen, dass K. nie wieder einen Fuss in die Freiheit setzt. Die Staatsanwaltschaft fordert siebeneinhalb Jahre Gefängnis und die Verwahrung. Brian sei nicht therapierbar, das Rückfallrisiko hoch. Die Verwahrung ultima ratio die einzig Alternative, auch wenn sie «krass» sei bei einem 24-Jährigen.
Aber entliesse man K. in die Freiheit, so sei ein Todesopfer «so sicher wie das Amen in der Kirche».
Anwalt Häusermann hält dagegen, die Vorgeschichte müsse miteinbezogen werden. Immer wieder hätte die Justiz mit Härte und Repression, die an Folter grenzte, auf ihn geantwortet. Brian kämpfe einzig und allein gegen dieses System. Einmal draussen, sei er ein anderer Mensch. Das hätten ihm auch ehemalige Weggefährten im Vorfeld des Prozesses bestätigt.
Die Vergangenheit spielt in beiden Versionen eine Rolle. Für die Verteidigung ist sie das Ticket für die Freiheit. Für die Staatsanwaltschaft dient sie als Rechtfertigung für den endgültigen Einschluss.
Was von diesem Prozess in Erinnerung bleiben wird, sind nicht die Schmähungen, die kruden Drohungen und Anschuldigungen von Brian K.. Auch nicht die Abwesenheit von K. oder das vierstündige Plädoyer des Verteidigers. Was bleibt, ist die dass noch immer so getan wird, als könnte man diesem Fall mit herkömmlichen und erprobten Mitteln beikommen, als sei der Gerichtssaal oder die Gefängniszelle der richtige Ort, um mit einem wie Brian umzugehen. Dabei hat er sein halbes Leben damit verbracht, das Gegenteil zu beweisen.
Am sechsten November wird das Urteil eröffnet. Ein Freispruch, wie ihn Häusermann fordert, scheint unwahrscheinlich. Einen Sieg des Babas kann sich die Justiz eigentlich nicht leisten. Und eine Verwahrung wäre eine Kapitulation vor einem Menschen, den sie selber zu formen geholfen hat.
Was tun? Hauptsache, etwas tun.
«Wenn man nichts macht, dann wird der Kampf von Herrn K. weiter gehen, bis er final erschöpft ist», sagt Richter Gmünder.
Und er präzisiert: «Das heisst, bis er aufgibt oder stirbt.»
Hachtel, der Psychiater, antwortet: «Dieser Einschätzung kann ich mich anschliessen, ja.»
Bis dass der Hund ruhig bleibt.
Der offensichtlich persönlichkeitsgestörte Brian merkt nicht, dass er sich mit seinem Verhalten immer wieder selbst in Ketten legt. Vernunft wäre der Schlüssel zur Freiheit, doch ein Narzisst lässt sich nichts sagen.
Die Zeit zurückdrehen kann niemand, nur Brian kann sich selbst ändern, im Umfeld eines Gefängnisses schwierig, aber nicht unmöglich. Wenn es seine Persönlichkeit nicht zulässt, ist es wohl besser, er bleibt im Gefängnis.