Sonntagabend, 25. August 2013. Im Schweizer Fernsehen läuft der Dok-Film «Der Jugendanwalt». Der Filmemacher, Hanspeter Bäni, porträtiert darin Hansueli Gürber, einen Alt-Hippie mit langen Haaren und einer für Schweizer Verhältnisse unkonventionellen Auffassung von Strafrecht und Lebensführung. Gürber stellt seinen erfolgreichsten «Fall» vor, «Carlos», ein 17-jähriger notorischer Delinquent. Einer, der sich seit Jahren auf dem Kriegsfuss befindet mit der Justiz und der Polizei und der jetzt in einem Sondersetting zum ersten Mal seit langem wieder in die Spur zu finden scheint.
Nach dreieinhalb Minuten sehen wir ihn das erste Mal, er liegt bäuchlings auf einer Matratze, das Gesicht in den Armbeugen vergraben. Eine Off-Stimme stellt ihn vor, «Carlos», ausgesprochen mit einem rollenden G, «Gggarlos». Die Kamera hält drauf, wir sehen das weisse T-Shirt, wie es sich über die Schulternmuskeln spannt, und die verwaschenen Blue-Jeans. Sonst aber sehen wir nicht viel, und vielleicht ist es auch genau diese Anonymität, die es in den nächsten Jahren Tausenden von Menschen erlaubt, alles mögliche in diesen jungen Körper hineinzuprojizieren.
Es ist ein Bild, das sich in den Köpfen der Schweizer Öffentlichkeit einbrennt. Ein gesichtsloser junger Mann mit schwarzer Hautfarbe, ein Muskelpaket mit kurzgeschorenen Haaren. Ein dunkles Phantom, an dem sich die Politiker, Justiz, Medien und der Stammtisch abarbeiten können. Je nach Perspektive Chiffre für zunehmende Jugendgewalt, Kuscheljustiz, Integrationsprobleme, seltener auch: Für die Aufmerksamkeitsökonomie der Medien, oder für ein umbarmherziges Vollzugsystem, das keinen Machtkampf mit seinen Klienten duldet.
Dass «Carlos» auch ein Leben hatte vor dem Dok-Film, ist in diesen Betrachtungen meist irrelevant. Aber die Geschichte von «Carlos» beginnt viel früher. Sie beginnt da, wo «Carlos» noch nicht «Carlos» heisst und sich sein Leben noch nicht zwischen Gefängnisanstalten und Gerichtsbänken abspielt.
In der «Rundschau» sagte «Carlos» vor einer Woche, er wolle, dass man seinen richtigen Namen kenne, Brian. Während es bei der Prozessberichterstattung üblich ist, den Angeklagten mit den Initialen (allenfalls mit dem ausgeschriebenen Vornamen) zu benennen, hielt das bei Brian lange niemand für nötig. Vorgeblich aus Gründen des Jugendschutzes. So blieb Brian auch auf dem Papier während Jahren «Carlos», der schwere Junge, der nie erwachsen werden wollte.
Brian wächst in der Nähe von Paris auf mit zwei Halbgeschwistern. Die Mutter stammt aus Kamerun und hat ihr soziales Netz in der französischen Hauptstadt. Der Vater ist ein Schweizer Architekt, arbeitet in Zürich und reist am Wochenende nach Paris zu seinen Kindern. Ende der 90er-Jahre läuft das Geschäft nicht gut, die Familie zieht aus finanziellen Gründen nach Zürich, dort kommt es zu Problemen. Die «Republik» schreibt unter Berufung auf psychiatrische Gutachten von «unhaltbaren, chaotischen Zuständen in der Familie» und von einer «strukturellen und emotionalen Verwahrlosung des Kindes.» Zwischen Brian und seinen Eltern soll es zu tätlichen Auseinandersetzungen kommen. Im Kindergarten wird ihm eine ausserordentliche Begabung attestiert, später fällt er als lautes, forderndes, unbändiges Kind auf.
Brian gerät früh mit dem Gesetz in Konflikt. Spray-Aktionen, Angriffe, Drogen und Alkohol. Bei den Behörden ist er bald ein altbekanntes Gesicht, seine Kindheit ist gezeichnet von Fremdplatzierungen, Heimaufenthalten und geschlossenen Einrichtungen. Die Familie, die Schulen, die Betreuer, sie alle sind überfordert mit dem Jungen. Als 10-Jähriger wird er fälschlicherweise der Brandstiftung verdächtigt, mit Handschellen abgeführt und das erste Mal inhaftiert.
2011, mit 15 Jahren, rammt er in Schwamendingen nach einem Streit einem 18-Jährigen ein Messer in den Rücken. Er wird wegen schwerer Körperverletzung und unterlassener Hilfeleistung verurteilt. In der Untersuchungshaft versucht er sich das Leben zu nehmen, in der psychiatrischen Universitätsklinik wird er, die Hände und Beine fixiert, ans Bett gefesselt. 13 Tage lang. So verbringt er seinen 16. Geburtstag. Seine Schwester reichte später Strafanzeige gegen die behandelnden Ärzte ein.
Sommer 2013. Brian befindet sich seit 13 Monaten in einem sogenannten Sondersetting. Die Gefängnisstrafe, zu der er wegen der Messerstecherei verurteilt worden war, wurde zugunsten dieser Massnahme aufgeschoben. Ein Team von Betreuern, darunter der mehrfache Thaibox-Weltmeister Shemsi Beqiri, kümmert sich in einem intensiven Programm um den Jugendlichen. Das Setting kostet 29'000 Franken. Viel Geld, aber weniger, als Brian in einem Gefängnis oder in einer Anstalt kosten würde. Und vor allem: Gut investiertes Geld, wenn das Setting Erfolg zeigt. Eine Karriere als Intensivstraftäter kommt die Gesellschaft viel teurer zu stehen.
Lange sieht es gut aus. Brian, der Unverbesserliche, hat sich in den 13 Monaten Sondersetting nichts zu Schulden kommen lassen.
Nach der Ausstrahlung des SRF-Doks im August 2013 stürzt sich das Boulevardblatt «Blick» auf den Fall. Ins Visier nehmen die Journalisten vor allem die Kosten des Sondersettings. Zwei Tage nach der Dok-Ausstrahlung titelt der «Blick»: «Sozialwahn – Zürcher Jugendanwalt zahlt Messerstecher Privatlehrer, 4.5-Zimmer-Wohnung und Thaibox-Lehrer.»
Der Begriff Sozial-Wahn wird etabliert. «20 Minuten» und die «Schweiz am Sonntag» ziehen nach, letztere zitieren aus einem vertraulichen Dokument, wonach Brian ein Armani-Deo für 46 Franken 90 benutze und jeden Tag Rindfleisch auf den Teller bekomme. Dass der Deo ein Geschenk und das Rindfleisch mehr frommer Wunsch als tatsächlich auf dem Speiseplan war, geht in der medialen Empörung unter. Zurück bleibt ein Bild, das ein «Luxusgeschöpf» zeigt, das den Behörden und Steuerzahlern auf der Nase herumtanzt. «Das Magazin» zeichnete ein halbes Jahr in einer ausführlichen Analyse nach, wie sich die Empörungsspirale drehte und drehte.
Eine Analyse des Forschungsinstitut Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich (Fög) kam ein Jahr später zum Schluss, dass der Fall Carlos die Züge eines «Medienhypes» getragen habe. Nicht nur die Boulevard- und Gratismedien, sondern auch seriöse Titel seien dabei auf diesen «Skandalisierungszug» aufgesprungen.
Über 2000 Einträge gibt es in der Schweizer Mediendatenbank zum Fall Carlos. Mit dem Fall Carlos konnte man sich profilieren, man konnte sich aber auch die Finger verbrennen. Was man nicht konnte, war, sich der Geschichte zu entziehen.
Das mediale Dauerfeuer zeigt Wirkung. Nachdem sich die Vorgesetzten zuerst noch hinter den Jugendanwalt Gürber gestellt hatten, drehte sich der Wind bald einmal. Die zum «Fall Carlos» hochstilisierte Geschichte wird erst zum Skandal, dann zum Politikum. Nach zweiwöchigem Ausschweigen lassen der damalige leitende Jugendanwalt Marcel Riesen-Kupper und sein Chef, Justizdirektor Martin Graf (Grüne) Jugendanwalt Hansueli Gürber fallen und beenden das Sondersetting für Brian mit sofortiger Wirkung. Der Volkszorn bedroht längst auch ihre eigenen Karrieren. An einer denkwürdigen Pressekonferenz sagt Graf, er habe Verständnis dafür, dass die Volksseele koche. Der direkte Vorgesetzte von Gürber, Riesen-Kupper, engagierte zuvor einen PR-Berater, der später mit fragwürdigen Methoden für Schlagzeilen sorgte.
Brian wird abrupt aus dem Sondersetting genommen und im Massnahmezentrum Uitikon eingesperrt. Zu seinem eigenen Schutz, wie die Justizdirektion kommunizierte. Ein halbes Jahr später pfeift das Bundesgericht den Kanton Zürich zurück. Die Aufhebung der Massnahme sei nur wegen dem öffentlichen Druck erfolgt, schreiben die Richter in Lausanne und ordnen die sofortige Freilassung von Brian an.
Ein neues Sondersetting beginnt, ein günstigeres, dieses Mal in Holland und ohne Thaibox-Training. Im Sommer 2014 erfolgt der Abbruch: Das Kosten-Nutzen-Verhältnis habe nicht mehr gestimmt. Brian wird in die Freiheit entlassen. Im September desselben Jahres später kommt er bereits wieder in Untersuchungshaft. Er soll einen Mann an der Langstrasse mit einem Messer bedroht haben. Der Verdacht erweist sich als falsch, trotzdem verbringt Brian ein halbes Jahr in U-Haft.
Die harte Hand, die Regierungsrat Graf im Umgang mit Brian unter Beweis stellen wollte, bereitet ihm politisch keinen Erfolg. Graf wird im Frühling 2015 abgewählt, er selbst führt die Abwahl auch auf den Fall Carlos zurück. Er habe die Quittung für den Fall erhalten, sagte Graf in einer hitzigen Rede nach den Wahlen. Natürlich habe er damals «nicht super kommuniziert». Aber die Schuld sucht Graf letztlich bei den Medien, den Parteien und bei Jugendanwalt Gürber. Nur Brian sei ebenfalls ein Opfer. Niemand habe sich bei der ganzen Geschichte wirklich für den Jugendlichen interessiert.
Nach den beiden abgebrochenen Sondersettings bleibt es fast ein Jahr lang ruhig um Brian. Bis er im März 2016 einem Bekannten im Tram einen Faustschlag verpasst. Er kommt in Untersuchungshaft, wird schliesslich wegen versuchter schwerer Körperverletzung zu 18 Monaten Haft verurteilt. Für Brian ein mit wenigen Unterbrüchen bis heute andauernder Irrweg durch die Gefängnisse dieses Landes. Einmal ist er im Pöschwies untergebracht, dann wird er nach Lenzburg verlegt, schliesslich nach Thorberg, und wieder zurück ins Pöschwies. Er kennt auch die Gefängnisse Limmattal, Winterthur, Burgdorf und Pfäffikon.
Im Gefängnis Pfäffikon muss Brian während mehr als zwei Wochen auf dem Zellenboden schlafen, Unterwäsche erhält er nicht, das Essen wird ihm in belegten Broten überreicht. Ein Gutachten kommt später zum Schluss, Brian sei unmenschlichen und erniedrigenden Haftbedingungen ausgesetzt gewesen.
Immer wieder lehnt sich Brian auf gegen die Haftbedingungen, zerkratzt Zellenwände, beschimpft Gefängisangestellte – und provoziert damit die Gegenreaktion des Vollzugs, der offenbar nur mit kläglichen Machtdemonstrationen antworten kann. Die Kaskade an Gewalt und Gegengewalt scheint, einmal in Gang gesetzt, nicht mehr aufzuhalten. Brians aktueller Anwalt, Thomas Häusermann, sagt in der «Republik»: «Im Gefängnis Pöschwies wird mein Klient wie ein Hannibal Lecter behandelt. Das Einzige, was ihm noch bleibt, ist die Auflehnung, ein ständiger Kampf.» «Im Gefängnis ist Wahnsinn der einzige geistige Zustand», sagt Brian im «Rundschau»-Bericht.
SP-Ständerat Daniel Jositsch sagte in der NZZ einst, einer wie Brian überfordere die Justiz. Das ist sicher nicht falsch. Aber umgekehrt überfordert die Justiz auch Brian. Und andere junge Erwachsene, wie der «Tages-Anzeiger» vor zwei Jahren festhielt. Brian ist wohl kein Einzelfall, auch wenn er gerne als solcher dargestellt wird.
«Man kann das System nicht kaputtmachen. Am Ende wird es ‹Carlos› brechen», sagte der Justizexperte Benjamin F. Brägger in der «NZZ». Aber es scheint, als könne Brian nicht anders.
Wenige Monate bevor Brian entlassen werden sollte, ereignet sich im Gefängnis Pöschwies ein weiterer Zwischenfall. Gefängnisangestellte eröffnen ihm, dass er aus dem Gruppenvollzug wieder in strenge Einzelhaft überführt werden solle. Brian reagiert aufbrausend, im Laufe der Auseinandersetzung wird ein Gefängnismitarbeiter verletzt. Die Versionen darüber, was damals genau geschehen war, gehen auseinander. Der Fall ist Hauptpunkt einer neuen Anklage, für die er sich heute Mittwoch vor dem Bezirksgericht Dielsdorf verantworten muss (die Verhandlung wurde aus Platzgründen nach Zürich verlegt). Neben der versuchten schweren Körperverletzung, muss sich Brian auch wegen mehrfacher Sachbeschädigung und mehrfacher Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte verantworten. Die Staatsanwaltschaft gab bekannt, man werde auch eine Verwahrung prüfen.
Der «Blick» listete die einzelnen Punkte eines Kostenblatts auf: Exakt 40'138 Franken kosten die zahlreichen Sachbeschädigungen, die sich Brian zuschulde kommen liess. Auch die Anwalts- und Gutachtenkosten führt die Boulevardzeitung auf: Alles in allem mehr als 100'000 Franken. Und im letzten Abschnitt werden wieder einmal, zum x-ten Mal, die Kosten des Sondersettings vor sechs Jahren aufgeführt. Dass ohne die Kampagne des «Blick» und anderer Medien Brian heute vielleicht nicht als «Dauer-Delinquent» und Kostenfaktor wahrgenommen werden würde, wird geflissentlich ignoriert. Das Gedächtnis der Medien war schon immer schlecht.
Brian auf der Matratze, Brian wie er am Küchentisch sitzt in dieser anonymen Wohnung, wie er das Angebot seiner Betreuerin ausschlägt, einen Ingewertee zuzubereiten, und dann doch einwilligt. Was auffällt an diesem Film über Brian und Jugendanwalt Gürber, wenn man ihn sechs Jahre später noch einmal anschaut, ist diese Diskrepanz zwischen den harten Schlägen, die der Thaiboxer Brian auf den Boxsack platziert, und der seltsamen Teilnahmslosigkeit, mit der der Jugendliche erscheint. Als hätte er damals schon geahnt, dass dieser Widerspruch auch die nächsten Jahre seines Lebens prägen wird. Jugendanwalt Gürber sagte später, dieser Film sei ein Fehler gewesen.
Die Berichterstattung über Brian war lange dominiert von einer unnachgiebigen und reisserischen Stossrichtung. Immer wieder hat sich daneben auch eine eher mitfühlende Haltung bemerkbar gemacht. Brian als Opfer eines starren Vollzugssystem, das nur mit Repression auf Renitenz reagieren kann. Das ist ehrenwert und nötig, jeder Mensch verdient unabhängig von seinen Taten eine faire Berichterstattung, gerade wenn er wie Brian in beispielloser Weise zu einem Sündenbock heraufgeschrieben wird.
Aber das Grundproblem bleibt: Ein Mensch wird zur Versuchsperson, zur exemplarischen Figur, auf dessen breiten Schultern sich gesamtgesellschaftliche Debatten zu allen möglichen Themen und Nicht-Themen verhandeln lassen. Ohne dass ihn jemals jemand nach seiner Meinung gefragt hätte.
In einem Interview mit der «Weltwoche» vor mehr als sechs Jahren, sagte Brian, «ich möchte frei sein, egal, was die Leute über mich denken».
Jetzt droht ihm die Verwahrung. Mit 24 Jahren.
Es geht doch darum, dass der Staat als letzte Instanz seine Macht, seine 3 Gewalt, durchsetzen *muss*. Wer den sonst? Das ist der Unterschied zum Faustrecht im Mittelalter.
Was mir im Artikel fehlt, ist die korrekte Erwähnung der Taten.
Das es Opfer gibt, die wegen Carlos Zeit Ihres Lebens IV beziehen müssen, wird leider nicht mal im Ansatz erwähnt. Das man ab 18 auch mal Verantwortung für sein Leben übernehmen darf ebenso.