Wahrscheinlich würde Marc Gisin weiterhin Skifahren, wenn letzte Woche in Cervinia, im italienischen Aostatal, ein Wunder passiert wäre. Dort gab sich der 32-Jährige im Training eine letzte Chance. Entweder kommt er an die Fahrzeiten der Kollegen ran, oder es ist für immer vorbei. Die Bedingungen waren anspruchsvoll, die Fahrer erreichten Tempi von 150 Stundenkilometern, die Piste hatte schattige Passagen. «Wenn ich ein paar Mal Bestzeit geliefert hätte, hätte es anders ausgesehen», sagt Marc Gisin. Doch er war weit entfernt von den anderen. Es fehlten Dinge, die nicht so einfach zu beheben sind. Er spürte nicht intuitiv, was er tun muss, um eine Kurve richtig zu erwischen. Es fehlte das Gefühl für Ski und Schnee, und letztlich vor allem das Vertrauen.
Letzte Woche fällte Gisin den endgültigen Entscheid. Die Tendenz habe sich aber schon vor ein paar Wochen abgezeichnet, sagt er.
Am Wochenende überlegte er sich schliesslich, wie seine Rücktrittsmeldung auf den sozialen Medien aussehen soll und bei wem er sich bedanken möchte.
Die Reaktionen waren ausschliesslich positiv. Der zurückgetretene Abfahrer Peter Fill kommentierte auf Instagram: «Ich hoffe, wir finden jetzt mal Zeit in der Skipension, um zu golfen.» Dominique Gisin schrieb: «Ich kenne keinen Athleten mit mehr Mut, Entschlossenheit und Anstand». Und Swiss-Ski dankte für die «geile Zeit».
Die Zeit im Spitzensport war aber nicht nur so, wie es der Kommentar des Skiverbands vermuten lässt. Auf jedes Hoch folgte ein Tief. Und manchmal blieb sogar das Hoch aus. 2012 riss das Kreuzband in Crans-Montana. 2015 erlitt er ein Schädel-Hirn-Trauma und eine Hirnblutung nach einem schrecklichen Sturz in Kitzbühel. Und 2018 mochte man kaum hinschauen, als er in Gröden vor den berüchtigten Kamelbuckeln abhob und nach einem weiten Flug auf der Piste aufprallte. Fünf Tage lag er danach im künstlichen Koma. Gisin sagt:
Die Rückschläge waren immer sehr komplex. Die Spätfolgen des Sturzes von 2015 holten ihn erst im Herbst 2016 ein. Gisin hatte Schlafprobleme und fühlte sich kraftlos, eine posttraumatische Belastungsstörung wurde diagnostiziert, er musste ein Jahr aussetzen. Nach dem Unfall 2018 brach er die Comeback-Saison ab, ohne ein Rennen gefahren zu haben. Auch da waren mentale Dinge ausschlaggebend. Im Kopf konnte er die Handbremse nicht lösen und die Kontrolle nicht abgeben. Und das machte ihn langsam.
Ausreisser nach oben gab es. Zweimal wurde er Fünfter in der Abfahrt von Kitzbühel. Vor allem der fünfte Platz vom Januar 2018 blieb im kollektiven Skigedächtnis. Gisin schien wieder mit der Streif im Reinen zu sein, das üble Sturzerlebnis von 2015 war überwunden. Gleichzeitig qualifizierte er sich für Olympia, im Fernsehinterview kamen ihm die Tränen. Dem unschönen Gesetz dieser Karriere entsprechend folgte elf Monate später der Sturz in Gröden. Gisin sagt: «Mein zukünftiges Leben wird nicht mehr solche emotionalen Schwankungen haben. Diese Spannung, die Nervosität, Freud und Leid - es war immer sehr intensiv.»
Einbezogen in den Entscheidungsprozess hat er niemanden. Seine Eltern nicht, seine Schwestern Dominique und Michelle, die beiden Olympiasiegerinnen, ebenso nicht. Das nahe Umfeld sei aber nicht wirklich überrascht gewesen über seinen Entschluss.
Vor kurzem hat er ein Studium in Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Luzern begonnen. Und zwar bereits im September, noch bevor er sich endgültig gegen den Spitzensport entschieden hatte. «Was jetzt folgt, ist viel mehr als nur ein Jobwechsel», sagt er. Es ist nicht unbedingt Erleichterung, die aus Gisin spricht. Sondern auch hörbare Wehmut. «Eigentlich ist es ein Leben, dass ich jetzt beende. Und ich glaube nicht, dass ich mein ganzes Potenzial habe abrufen können.» Doch wahrscheinlich zählt in der Bilanz letztlich vor allem eines: Gisin ist gesund. Er sagt: «Eigentlich wäre ich bei einem Sturz fast gestorben.» Seine Angehörigen werden nicht böse sein, dass er in ein ruhigeres Leben wechselt. (aargauerzeitung.ch)
Ein äusserst sympathischer Mensch tritt vom Skizirkus zurück. Sein Kämpferherz war und ist vorbildlich.