Drei Spiele hat die Schweiz an der Heim-Europameisterschaft absolviert. Drei Mal in der Folge wurde nach dem Schlusspfiff Géraldine Reuteler als beste Spielerin ihres Teams ausgezeichnet. Ein Zufall ist das nicht. Die Nidwaldnerin ist an diesem Turnier bislang die wichtigste Schweizer Einzelspielerin.
Natürlich könnte man auch für andere Spielerinnen argumentieren. Captain Lia Wälti beispielsweise, die trotz Kniebeschwerden durchspielt und im Mittelfeld für Ruhe sorgt. Oder Goalie Livia Peng, die nach einem Wackler zum Auftakt die Schweiz mit wichtigen Paraden in den Viertelfinal gehext hat. Aber nein, die wichtigste Einzelspielerin ist Reuteler.
Die 26-Jährige ist eine Alleskönnerin. Zum EM-Auftakt gegen Norwegen stellt Trainerin Pia Sundhage sie im Sturm auf. Dort sorgt Reuteler mit ihren Vertikalläufen für Torgefahr – nur der krönende Abschluss fehlt. Noch. Im zweiten Auftritt dagegen rückt sie ins Mittelfeld. Sie gewinnt viele Zweikämpfe, ist im Pressing eine grosse Waffe. In den drei EM-Spielen hat sie pro Partie durchschnittlich sieben Bälle zurückerobert – ein Spitzenwert.
Und kurioserweise klappt es seit der Rückversetzung ins Mittelfeld auch mit den offensiven Aktionen. Sie kombiniert die Abräumerin im Mittelfeld mit Spielintelligenz, hohen technischen Fähigkeiten und Schusskraft – eine stilistische Mischung aus Valon Behrami und Xherdan Shaqiri.
Gegen Island macht Reuteler den Dosenöffner, trifft zum 1:0. Und gestern, im abschliessenden Gruppenspiel gegen Finnland spielte sie den letzten Pass auf Riola Xhemaili, deren 1:1-Ausgleich der Nati den Viertelfinaleinzug ermöglichte. Wobei die Frankfurt-Söldnerin nach dem Spiel zugibt: «Eigentlich wollte ich schiessen.»
Das ist eine andere Qualität, die Reuteler auszeichnet: ihre ehrliche und direkte Art und die Fähigkeit, ihre Mitspielerinnen mitzureissen. Sie redet nicht um den heissen Brei herum und ist trotzdem immer optimistisch und überzeugt. Als Finnland spät per Penalty in Führung geht, treibt die 26-Jährige ihre Mitspielerinnen weiter an, sie glaubt noch an den Ausgleich.
Die Allrounderin geht immer mit vollem Einsatz voraus, weil sie die Schweiz liebt. Wenn es hierzulande eine Profiliga für Frauen gäbe, wäre Reuteler wohl nie nach Deutschland gewechselt. 2018 wechselte das einstige Supertalent aus dem Luzerner Nachwuchs nach Frankfurt und war lange geplagt von grossem Heimweh.
Mittlerweile fühlt sie sich in Frankfurt heimisch. Vielleicht stand auch deshalb ein Wechsel nie wirklich zur Diskussion. Dabei beweist Reuteler in diesen Tagen und Wochen gerade, dass sie eigentlich zu Höherem berufen ist. Sie gehört zu den besten Spielerinnen Europas. In Frankfurt stimmt der sportliche Erfolg – die letzte Bundesligasaison schloss das Team auf Rang 3 ab.
Doch daneben gibt es noch Raum für Verbesserungen. Die Frauen der Eintracht spielen selten im grossen Stadion der Männer, müssen stattdessen mit dem Stadion am Brentanobad mit 1500 Sitzplätzen vorliebnehmen. «Die Männer im Stadion, wir neben dem Stadion», sagt Reuteler zur Situation in Frankfurt. Bei einem Topklub in England oder Spanien würden wohl etwas andere Verhältnisse auf die Nationalspielerin warten.
Und wenn Reuteler in Frankfurt bleiben will, dann bleibt ihr immerhin noch die Nati. Trotz ihrer erst 26 Jahre und einer langen Pause aufgrund eines Kreuzbandrisses im März 2021 hat die Nidwaldnerin schon 79 Nati-Spiele auf dem Konto. Sie ist vom Supertalent zur absoluten Teamleaderin gereift und darf sich jetzt dort um die nächste Generation von Supertalenten mit Iman Beney, Sydney Schertenleib und Leila Wandeler kümmern. Vielleicht ist das Höhere ja auch ein Sieg an deren Seite im EM-Viertelfinal gegen Spanien oder Italien.