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Projet Roger: Der Vater im Sarg gibt Rätsel auf

Pfeife Teaserbild für Projet Roger
Bild: watson
Projet Roger

Der Vater im Sarg gibt Rätsel auf

Teil 1.
20.07.2025, 16:5720.07.2025, 18:02
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Projet Roger - Staffel 2!
Sei willkommen zur zweiten Staffel unserer völlig fiktiven Serie! In «Projet Roger» geht es um den stets etwas verbissenen Bürogummi Roger Fässler, der neben einer steilen Karriere auch die Liebe sucht, beide aber nicht unbedingt ihn. Zumindest war das in der ersten Staffel so. Jetzt aber winkt ein neuer Titel. Und Rita! Doch der Tod funkt ihm dazwischen, und Roger Fässler muss sich stattdessen mit nichts Geringerem als dem Sinn und Zweck seines Daseins beschäftigen. Und inmitten dieser Grübelei wird ihm klar: Auch die gelungensten Firmenwerte bügeln die Fehler einer Mutter nicht aus.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

>> Hier kannst du die komplette erste Staffel nachlesen.

Als er so vor Roger lag, sah er nicht ganz vollständig aus. Irgendwas fehlte. Er starrte in den Sarg hinein und murmelte verwirrt: «Nein, das ist nicht mein Vater.»

Seine Mutter strich ihm mit der Hand über den Rücken. Ein Weilchen noch standen sie da, vor dem aufgebahrten Toten. «Die Pfeife! Wo ist seine Pfeife?», fragte er aufgebracht.

Seit Roger denken kann, hatte Josef Fässler eine Pfeife im Mund. Und aus der Pfeife kam Rauch, hinter dem sein Vater verschwand. Ihn jetzt so unvermittelt zu sehen, wie er ihn zu Lebzeiten nie gesehen hatte, befremdete ihn.

Und selbst wenn der Rauch sich nun für immer verzogen hatte, ein klares Bild würde sich für Roger niemals ergeben. Im Grunde hatte er seinen Vater gar nicht gekannt, obwohl er in seiner Kindheit immer da gewesen war, rauchend und Kreuzworträtsel lösend in seinem Eames Lounge Chair. Und was er dabei in Händen hielt, war nicht irgendein Rätsel. Josef Fässler beschäftigte sich allein mit dem kryptischen von Eckstein aus dem «ZEITmagazin», das mit Wörtern, Silben und Buchstaben spielt, kleine, mit viel hinterlistiger Psychologie und trickreichem Sprachwitz gemachte Meisterwerke für den Mann, der um die Ecke denkt.

Irgendwann rief er dann: «Geschafft!», und warf das Magazin schwungvoll auf den Glastisch, der auf seinen steinernen Stehlen wie ein geheimnisvolles Megalithengebilde das Zentrum des Wohnzimmers zu markieren schien. Kein Wunder hatte Roger in jener urmystischen Atmosphäre das Gefühl bekommen, sein Vater würde nächstens auch das Rätsel um Stonehenge knacken.

Einmal aber verfehlte Josef den Tisch und als Roger das Magazin vom Boden aufhob, sah er, dass sein Vater überhaupt nichts reingeschrieben hatte. Erst hielt er es für ein Versehen, vielleicht war es dieses Mal einfach zu knifflig gewesen, selbst für Josef Fässler.

Aber das war es nicht. Roger entdeckte bald, dass die Felder immer leer blieben. Jede Woche, wenn seine Mutter zu Tisch rief und sein Vater aufgestanden war, warf er einen verstohlenen Blick auf die letzte Seite des Magazins und fand dort das unangetastete Rätsel. Nur einmal hatte er etwas an den Rand gekritzelt, das Roger als «Gurke» entzifferte. Gefolgt von einem Fragezeichen.

«Wir haben uns das mit der Pfeife lange überlegt, dein Bruder und ich», sagte Esther Fässler jetzt. Sie standen noch immer vor Josef, dessen matt gepudertes Gesicht in dem hochglänzenden Mahagoni-Sarg noch fahler wirkte. Seitlich ins Holz graviert zog der Mäanderfries an ihnen vorbei, eine Kette aus eckig eingerollten Schlangen, die sich, immer schon ihren Nachkommen in sich tragend, weiterwanden bis in alle Ewigkeit.

Der Kreislauf des immerwährenden Kosmos.

Aber wie sollte sich Josef Fässler nun in diese Ewigkeit einreihen – so ganz ohne Pfeife?

Roger antwortete nicht, seine Augen folgten den Windungen der Schlangen.

«Roger», sagte seine Mutter mit ernster Miene. «Du hättest mitbestimmen können, aber du bist ja nicht gekommen. An keine der Besprechungen mit dem Bestatter.»

Als er den Anruf von Esther erhielt, stand er vor Ritas Kabäuschen, einem winzigen Glaskasten am Haupteingang seines Büros. Seit das mit Géraldine ins Wasser gefallen war, kam er gute zehn Minuten früher ins Büro, um mit Rita zu plaudern. Erst übers HR. Dann über ihr Ferienhaus im Tessin. An diesem Tag aber hatten sie bereits schüchtern das Thema Zukunft berührt, nicht dass da ausserhalb von Rogers Vorstellung schon eine gemeinsame am Horizont aufgeflackert wäre, aber er fragte Rita doch immerhin schon nach ihrer Meinung in Bezug auf THE ROGER Pro 2, den neuen On-Schuh in knalligem Gelb mit pinken Elementen, den es ihm gestern so unverhofft in seine Instagram-Timeline gespült hatte. Und als sie sich aus ihrem Kabäuschen heraus über sein Handy beugte, um den Sneaker zu begutachten, klingelte es.

«Oh, das ist meine Mutter», sagte Roger entschuldigend und wurde ein bisschen rot. Und nachdem er aufgelegt hatte, war jegliche Farbe aus seinem Gesicht gewichen.
«Was ist los?», fragte Rita so leise, als würde sie am liebsten gar nicht gehört werden.

«Mein Vater ist tot», erwiderte Roger.

Dann schaute er auf sein Handy, wo statt Esther wieder THE ROGER Pro 2 erschienen war. Er wählte seine Grösse und legte die Schuhe in den Warenkorb. Er ging zur Kasse und bezahlte die 260.00 CHF.

Rita kam aus ihrem Kabäuschen heraus. Sie stellte sich vor Roger und schaute ihn eindringlich an. Sie suchte sein Inneres, das irgendwo hinter seinen Augen verloren gegangen war.

Und weil sie es nicht wiederfand, blieb sie bei ihm. Sie konnte ihn jetzt nicht allein lassen, nicht, nachdem der Tod genauso unverhofft wie der Sneaker auf der Bildfläche aufgetaucht war.

Der Algorithmus des Lebens. Irgendwann erreicht er jeden. Und dann ist es gut, wenn man eine Rita hat, die an diesem unerbittlichen Ende steht und einen auffängt.

Roger schaute seine Mutter leer an, er hatte den in ihren Worten mitschwingenden Vorwurf nicht bemerkt, er war nicht empfänglich dafür, momentan war er das für gar nichts. Seit der Nachricht vom Ableben seines Vaters tappte er wie ein Schlafwandler durch den Rauch, den Josef Fässler in seinen 74 Lebensjahren ausgestossen hatte. Die dichten Schwaden krochen in seine Körperöffnungen und betäubten ihn.

Rita sass in der zweithintersten Reihe in ihrem hochgeschlossenen schwarzen Kleid, über ihr im Kuppelgewölbe hingen in aschigen Wolken Engel und Heilige, Könige und Kaiserinnen, Päpste und Märtyrerinnen in erhabenen Posen, Gottes Ankunft mit offenen Armen erwartend.

Die mittleren Bankreihen vor ihr waren leer geblieben und schienen sich schier endlos zu wiederholen, bis sie endlich, von einigen Dutzend Trauergästen besetzt, innehielten vor dem weissen Volksaltar. Daneben stand der Sarg, umringt von ebenso weissen Blumenkränzen. Dahinter, durch ein Eisengitter getrennt, im sakralsten aller sakralen Bereiche jenes monumentalen Kirchenbaus, ragten seitlich zwei in rotem Stuckmarmor gefasste Chorpfeiler-Altäre auf, auf dem einen starb Jesus seinen Kreuzestod, auf dem anderen lag er als glorienscheiniges Kind in den Armen seiner Mutter. In der Mitte erhob sich der Hauptaltar als ein in die Wand eingebauter Tempel, umsäumt von schwarzweissen Marmorsäulen fuhr Maria in wallendem Gewande gen Himmel. Der Barock hing in schweren Putten von der Decke, sodass Rita für einen Moment fürchtete, von einer erschlagen zu werden.

Alles war so gewaltig und übermächtig, und in dieser ganzen Riesenhaftigkeit wirkte der Tote in seinem Särglein so winzig.

Als ginge es hier gar nicht um ihn. Und vielleicht war das auch so. Josef Fässer wurde gerade in einen grösseren Zusammenhang eingebettet, in ein alles erklärendes Ganzes – mit einem klaren Oben und Unten.

Den Auftakt machten die schnaufenden Pfeifenklänge der Orgel, die von einer in jeden Ton hineinlehnenden Organistin ausgeschickt wurden. Auf ihre träge, blasige Weise verteilte sich die Musik im Raum, zerfiel dabei in tausend Teile, die alle für sich allein ein Plätzchen suchten, um sich dort am eigenen Widerhall zu ergötzen. Und in dieser verschwimmenden Klangsuppe, die jegliche Grenzen aufzuheben schien, kam Roger wieder zu sich.

In diesem von ihm stets nur besuchten Ritual ergab der Tod plötzlich einen Sinn. Hier und nirgendwo anders gehörte er hin. Hier konnte Roger seinen Vater endlich sterben lassen, zu den Klängen der Orgel, die für ihn bereits den Tod seiner Grosseltern, seiner Tanten und den von Onkel Peter eingeläutet hatten. Wie ein fast vergessener Bekannter wurde Roger vom Tod umarmt und plötzlich umgab ihn das seltsam tröstende Gefühl, dass schon alles seine Richtigkeit besass.

Jetzt rief der Himmel.

Obwohl.

«Wir haben ihm die Pfeife nicht mitgegeben», setzte Rogers Mutter nun zur Verteidigung an. Inzwischen hatten sie in der ersten Reihe Platz genommen. «Mein Gott, sind wir denn hier im Alten Ägypten?», zischte sie wütend. «Willst du ihm gleich noch seine Bücher, ein Tupperware voll mit Risi Bisi und seine gesammelten Kreuzworträtsel mit ins Grab legen?»

«Er würde sie auch dort nicht lösen», sagte Roger trocken. Esther starrte ihren Sohn an. Ihr Gesicht verriet Erstaunen, aber keine Spur von Empörung. Seine Äusserung schien sie nicht zu schockieren, was nur bedeuten konnte, dass sie die Wahrheit bereits kannte. Sie wusste ganz genau, dass die Rätselei ihres Mannes die reinste Farce gewesen war. Sie war nur von der Tatsache überrumpelt worden, dass auch Roger darüber im Bilde war.

Dieser starrte nun zurück zu seiner Mutter. Wenn sie beide das Spiel durchschaut hatten, dann hatte sein Vater das Theater allein für sich selbst aufgeführt.

Eine über die Jahre hinweg sorgsam inszenierte Selbsttäuschung, nichts anderes war es gewesen! Eine Täuschung, die ihn zwei Stunden seiner täglichen Lebenszeit kostete. Das ergibt, von Rogers Geburt bis zu Josefs Tod, die Schaltjahre mit berücksichtigt, insgesamt 30'697 Stunden. Das sind 1'278 Tage, was wiederum ungefähr 3,5 Jahren entspricht.

«Ab wie vielen Stunden Täuschung ist ein Leben eine Lüge?», fragte sich Roger, während der Pfarrer die Stationen von Josefs Biographie durchging. Seine feste Stimme türmte die Jahre seines Vaters wie Bauklötze aufeinander. Doch als er damit fertig war, sah Roger, wie der Turm schwankte und auseinanderzufallen drohte. Ohne die tragende Stimme des Pfarrers, die ihn wie ein Gerüst stützte, war es nur ein wahllos aufeinander gestapeltes Leben ohne Zusammenhang. Und sein Zweck war ebenso wenig ersichtlich.

Worüber wollte sein Vater bloss hinwegtäuschen?

Zu Bachs Orgelstück «Jesu, meine Freude, meines Herzens Weide» schloss Esther Fässler den oberen Deckelteil des Sarges. Josefs älterer Sohn Marcel stand neben ihr, gefasst und bereit, seinen Vater zu seiner letzten Ruhestätte zu tragen. Roger sass noch immer auf der Bank, durch die auffordernden Blicke seines Bruders hindurchsehend, als plötzlich Rita neben ihm auftauchte.

«Komm», sagte sie, und hielt ihm ihre Hand hin.
Roger griff danach und stand auf.
«Er ist tot», sagte er.
«Ja», sagte Rita.

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