In einem Hochhaus in Chur, eingebettet zwischen den Bündner Bergen, sitzen die Zwillinge Akshaya und Raksan Mylvaganam vor dem Laptop. Auf dem Bildschirm wird ein Übungsblatt mit Mathematikaufgaben angezeigt, daneben ist in einer Kachel ihre Nachhilfelehrerin Anna zu sehen. Anna trägt ein Oberteil, das aussieht wie von einer Raumfahrerin aus einem Science-Fiction-Film.
Anna sagt «Addition» und «Division» mit einem englischen Akzent, doch das stört die Kinder nicht. Manchmal spricht Anna nicht in ganzen Sätzen, dann fordern die beiden sie auf, den Satz zu wiederholen. Grundsätzlich sind Akshaya und Raksan sehr geduldig mit ihrer Nachhilfelehrerin.
Doch manchmal reisst auch dieser Geduldsfaden: «Siebzehn», sagt Raksan fast verzweifelt. «Meinst du siebten?», fragt Anna. «Nein, siebzehn!», ruft Akshaya ins Mikrofon. «Siebzehn?», fragt Anna, «was möchtest du mit der Siebzehn tun?». «Die Antwort ist siebzehn», sagt Raksan sichtlich genervt.
«Ich glaube, du musst das Programm neu starten, es hat im Hintergrund unser Gespräch mitgehört und ist verwirrt», sagt Friedrich Wicke. Raksan lädt das Fenster neu und Anna taucht wieder auf. Diesmal versteht sie die Antwort auf Anhieb.
Wicke ist ETH-Masterstudent und hat Anna gemeinsam mit seinem Business-Partner Gero Embser entwickelt. Denn Anna ist keine gewöhnliche Nachhilfelehrerin, sie ist ein KI-Avatar. Raksan und Akshaya gehören zu rund hundert Kindern, die das Produkt bereits nutzen.
Akshaya und Raksan, beide elf Jahre alt, waren immer gut in der Schule. Doch in der fünften Klasse wurde der Mathematikunterricht anspruchsvoller und ihre Noten schlechter. Der Vater Ramesh Mylvaganam konnte seinen Kindern nicht helfen. Er arbeitet von früh bis spät als Produktionsleiter von Kunststoffstrahlmitteln in Chur.
In Sri Lanka war er zwar zehn Jahre in der Schule, bevor er vor dem Krieg in die Schweiz floh. Doch mit der deutschen Sprache hat er immer noch Mühe, wie seine Frau Jaya auch. Zudem finden seine Kinder sowieso, die Eltern erklärten alles falsch. Also musste eine Nachhilfelehrperson her.
«Eigentlich wollte ich zuerst einen echten Menschen als Nachhilfelehrerin», sagt Mylvaganam. Doch diese kosten 25 bis 130 Franken pro Stunde. Für den Alleinverdiener waren diese Kosten kaum zu stemmen. Im Internet stiess er auf «tutor.new», das Start-up der ETH-Studenten. Bei der KI-Nachhilfelehrerin kostet die Stunde nur zwei Franken.
Mylvaganam verabredete eine Probelektion, war jedoch kritisch. Die Kinder überzeugten ihren Vater, es noch eine Weile mit Anna zu versuchen. Nun arbeiten sie seit drei Monaten mit der KI-Lehrerin und obwohl diese noch einiges an Verbesserungspotenzial hat, ist mittlerweile auch der Vater mit der Lösung zufrieden.
Ist das die Zukunft? Werden Menschen nun auch im Schulunterricht von künstlicher Intelligenz verdrängt? «Bisher kann KI Lehrpersonen nicht breitflächig ersetzen», beschwichtigt Dominic Hassler, Experte für KI und Dozent am Zentrum für Berufs- und Erwachsenenbildung an der PH Zürich. «Voraussetzung für Nachhilfe mit KI ist Selbstmotivation und die Kompetenz, selbstständig zu lernen. Wer das mitbringt, braucht aber oft keine Nachhilfe, weder von der KI noch von einem Menschen.»
Wie sieht das bei Akshaya und Raksan aus? Ist es schwer, sich für die KI-Nachhilfe zu motivieren? Akshaya nickt schüchtern, die Mutter grinst. Sie müsse die Kinder schon manchmal überreden, sich zum Üben hinzusetzen, sagt ihr Mann mit einem Blick auf die beiden.
«Ich glaube auch nicht, dass KI eine richtig gute Lehrperson ersetzen kann. Doch in der Realität haben nicht alle Kinder Zugang zu guter Nachhilfe», sagt Wicke. Guter Nachhilfeunterricht sei teuer, nicht alle könnten sich das leisten. Deshalb kostet die App auch nur zwei Franken pro Stunde, das liegt knapp über den Kosten für den Server und das Betreiben der KI-Modelle für eine Stunde. Die Betreiber sind mit dem Preis sogar herunter, anfangs lag er bei sechs Franken.
«Als gut ausgebildete Informatiker könnten wir natürlich viel mehr Geld verdienen, aber das Projekt hat auch eine politische Dimension», sagt Wicke. Eltern seien meist zeitlich ausgelastet. Fächer wie Mathe nicht nur zu verstehen, sondern auch zu erklären, könne eine Herausforderung sein – durch unsichere Deutschkenntnisse werde das noch erschwert.
Durch die KI-Lehrerin wollen die beiden einen Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit leisten. Und das Angebot wächst: Auf Wunsch gibt Anna mittlerweile nicht mehr nur Nachhilfe auf Primarschulniveau, sondern erteilt auch Deutschunterricht für Eltern.
Trotz Kritik sieht auch Hassler Vorteile der KI im Schulunterricht: «Wenn man früher bei den Hausaufgaben eine Teilaufgabe nicht lösen konnte, kam man einfach nicht weiter», sagt er. «Nun kann KI fast immer den Lösungsweg erklären. Das ist eine riesige Chance für die motivierten Schülerinnen und Schüler.»
Auch wenn das Verhältnis zur Lehrperson problematisch ist oder das Kind die Erklärungen der Lehrperson nicht versteht, die Erklärungen der KI aber schon, könne eine KI-Nachhilfe helfen.
Tatsächlich kann Anna den Lösungsweg erklären. Und sie hat noch mehr Vorteile: Sie kann regelmässig neue Aufgaben erstellen und merkt sich, welche Themen die Kinder noch üben müssen. Anders als bei Übungsblättern auf Papier können Akshaya und Raksan die Lösung nicht einfach nachschauen. Wenn sie eine falsche Antwort geben, sagt die KI mit netter Stimme «probiere es noch einmal».
Dann flüstern sich die beiden ihre Überlegungen zu, leise, damit Annas Spracheingabe nicht aktiviert wird. Wenn sie nicht weiterkommen, fragen sie die KI um Hilfe. Und Anna erklärt den Rechenweg Schritt für Schritt. Manchmal spricht sie dabei etwas abgehackt, manchmal zu schnell. Doch wie man richtig spricht, kann Anna ja noch lernen. (aargauerzeitung.ch)