Seit bald fünf Monaten herrscht Krieg in der Ukraine. Die anfängliche Betroffenheit im Westen schwindet. Ein Gewöhnungseffekt setzt ein. Er ist umso grösser, je weiter entfernt man sich befindet. Das gilt auch für uns. Trotz der Medienberichte und der ukrainischen Flüchtlinge bleibt der Krieg für die meisten Leute in der Schweiz abstrakt.
Das zeigt sich in der Nachbefragung zur Studie «Sicherheit 2022» der ETH-Militärakademie, die nach dem Kriegsausbruch am 24. Februar durchgeführt wurde und deren Ergebnisse am Donnerstag präsentiert wurden. Die Neutralität wird etwas kritischer gesehen und eine Annäherung an die Nato stärker befürwortet. Aber grosse Verschiebungen gab es nicht.
Eine Mehrheit der Befragten erwartet mehr kriegerische Konflikte in Europa. Und das Image der Armee ist so positiv wie lange nicht. Die vom Parlament geforderte Budgeterhöhung von fünf auf sieben Milliarden Franken pro Jahr aber ist deshalb nicht unbedingt mehrheitsfähig. Nur knapp 20 Prozent finden, für die Armee werde zu wenig Geld ausgeben.
Existenziell bedroht fühlen wir uns durch den Ukraine-Krieg offenbar nicht. Ganz anders sieht es in Schweden und vor allem Finnland mit seiner 1300 Kilometer langen Grenze zu Russland aus. Dort kam es zu einem radikalen Meinungsumschwung. Vor dem Krieg waren vielleicht 30 Prozent der Finnen für die Nato-Mitgliedschaft. Heute sind es 70 Prozent.
Hinter diesem Unterschied zwischen Finnland und der Schweiz, zwei ansonsten ähnlichen Ländern, steckt eine Binsenweisheit: Die mentale und geografische Distanz ist wesentlich für das Bedrohungsgefühl. Je grösser die Nähe zu Russland, desto grösser die Furcht und das Bedürfnis nach Schutz. Für uns aber ist der Krieg vergleichsweise weit weg.
Sehr real hingegen ist eine andere, mit dem Krieg verbundene Bedrohung: Im Winter könnten der Strom und das Gas knapp werden. Es drohen kalte Wohnungen und stillgelegte Fabriken. Es ist ein Szenario, das den wohlstandsverwöhnten Westeuropäern Angst einjagt. Wir sind uns gewohnt, dass Energie jederzeit günstig verfügbar ist.
Mit dieser Angst spielt der russische Aggressor Wladimir Putin gezielt. Er hat die Gaslieferungen Richtung Westen gedrosselt. Die Pipeline Nord Stream 1 ist derzeit für jährliche Wartungsarbeiten abgestellt. Es ist vollkommen unklar, ob sie wieder in Betrieb genommen wird. Aus Russland gibt es in dieser Hinsicht eindeutig zweideutige Signale.
Putins Kalkül ist so durchsichtig wie eine frisch geputzte Fensterscheibe. Er will den Westen einschüchtern, damit er die Unterstützung für die Ukraine und vor allem die Waffenlieferungen einstellt. Und es geht zumindest teilweise auf. In letzter Zeit gibt es vermehrt Forderungen nach Verhandlungen mit Russland über ein Ende des Kriegs.
Nicht alle formulieren ihre Ziele so direkt wie SVP-Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher im Interview mit der NZZ: «Europa muss mit Putin eine stabile Gasversorgung mindestens bis im Frühling 2023 und einen Frieden verhandeln!» Andere wie der Zürcher GLP-Nationalrat Martin Bäumle wollen primär die Ukraine vor weiterem Blutvergiessen bewahren.
Eine ähnliche Stossrichtung hat der jüngste Appell deutscher «Intellektueller» für einen «Waffenstillstand jetzt!» in der «Zeit». Der Westen müsse «alles daransetzen, dass die Parteien zu einer zeitnahen Verhandlungslösung kommen». Wie das funktionieren soll, darüber schweigen sich alle «Friedensapostel» bezeichnenderweise aus.
Denn es gibt keinerlei Anzeichen, dass Wladimir Putin zu ernsthaften Verhandlungen bereit ist. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj fordert ihn seit dem ersten Kriegstag zu direkten Gesprächen auf. Putin reagiert nicht. Der französische Präsident Emmanuel Macron und der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz telefonieren mit ihm – erfolglos.
Obwohl die russische Armee im Donbass nur langsam und zum Preis gewaltiger Verluste und Zerstörungen vorankommt, scheint Putin sein Ziel nicht aufgegeben zu haben, das ganze Land zu erobern. Oder zumindest den Osten der Ukraine inklusive der Hauptstadt Kiew sowie die gesamte Schwarzmeerküste mit der Hafenstadt Odessa.
Die Ukrainer wiederum erleiden entsetzliche Verluste, und die russische Zermürbungstaktik setzt ihnen zu. Aber ihr Wille zum Widerstand ist nach wie vor vorhanden. Sie hoffen auf moderne Waffen wie die Himars-Raketenwerfer und kündigen eine grosse Gegenoffensive im Süden an. Ob das realistisch ist, lässt sich aus der Ferne nur schwer beurteilen.
Gar nicht realistisch ist hingegen die Vorstellung von Martin Bäumle, Putin werde sich aus den neu besetzten Gebieten zurückziehen. Er will sie dauerhaft halten und womöglich annektieren, ihre «Russifizierung» ist bereits im Gang. Das kann die ukrainische Regierung nicht akzeptieren. Für den im Westen erhofften «Frieden» aber müsste sie nachgeben.
«Verhandlungen bedeuten nicht, wie manchmal angenommen wird, der Ukraine eine Kapitulation zu diktieren. Einen Diktatfrieden Putins darf es nicht geben», heisst es im «Zeit»-Aufruf treuherzig. Genau darauf aber läuft es hinaus. Die Ukraine soll kapitulieren, damit wir uns nicht mehr vor einem Atomkrieg fürchten und im Winter nicht frieren müssen.
Die Forderung nach Verhandlungen mit Putin ist der Luxus der Verwöhnten, die es vor der Vorstellung graut, sie müssten Abstriche am Wohlstand machen. Und die es in Ordnung finden, dass die Ukraine einen beträchtlichen Teil ihres Territoriums hergibt – wie in München 1938, als der damaligen Tschechoslowakei das Sudetenland «abgezwackt» wurde.
Es kann sein, dass eine Waffenruhe und ein «Einfrieren» des Konflikts auf dem heutigen Stand das Maximum ist, was derzeit erreichbar ist. Wladimir Putin aber wird dazu erst bereit sein, wenn er einen zu hohen Preis für die Fortsetzung des Kriegs bezahlen muss. Deshalb muss der Westen den Druck hochhalten, inklusive Sanktionen und Waffenlieferungen.
Mit dieser Erkenntnis tun sich viele schwer. Der Tamedia-Chefredaktor veröffentlichte in der «Sonntagszeitung» einen Kommentar, in dem er die Verantwortung auf Deutschland abschob. Nicht bei den Waffen wohlgemerkt. Die Deutschen sollen dafür sorgen, dass das Gas fliesst, selbst wenn dies bedeutet, der Ukraine einen «Diktatfrieden» aufzuzwingen.
Und die Schweiz? Sie profitiert davon und kann gleichzeitig wie gehabt ihre Hände in Unschuld waschen. Hauptsache, es fliesst warmes Wasser aus der Leitung.
Wer auch nur im Entferntesten annehmen könnte dass Verhandlungen und Frieden mit Putin OHNE grosse Opfer der Ukraine erzielt werden können, dem ist nicht zu helfen.
Diese grossen Opfer würden zudem nur eines beweisen; Aggression lohnt sich.
Wir haben in unserem kapitalistischen System schon das Problem, dass sich Gier, Egoismus und Skrupellosigkeit zu oft lohnen, wenn wir das nun noch auf Gewallt und Agression ausdehnen, ist der Westen verloren und verdient sein Schicksal vollauf.