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Interview

Wird die Ukraine dank HIMARS den Krieg gewinnen? Das sagt die Expertin

FILE - In this May 23, 2011, file photo a launch truck fires the High Mobility Artillery Rocket System (HIMARS) produced by Lockheed Martin during combat training in the high desert of the Yakima Trai ...
Die Ukraine kann neu auf den Mehrfachraketenwerfer HIMARS setzen.Bild: keystone
Interview

Wendet sich jetzt das Blatt zugunsten der Ukraine? Das sagt die Expertin

Dank einer Waffenlieferung träumen die Ukrainer von einer grossen Gegenoffensive. Militärhistorikerin Tamara Cubito sagt, ob dies derzeit realistisch ist.
14.07.2022, 04:5819.07.2022, 11:23
Corsin Manser
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Frau Cubito, unser letztes Interview ist jetzt drei Monate her. Russland hatte da gerade eine bittere Niederlage vor Kiew einstecken müssen. Da warnten Sie aber bereits, dass man die Russen nie unterschätzen dürfe. Zeigt sich jetzt, was Sie damals meinten?
Absolut. In den ersten Wochen machte man sich lustig über die Pleiten-Pech-und-Pannen-Show der Russen. Man hatte das Gefühl, es seien alles totale Amateure. Jetzt zeigt sich aber, dass die russische Armee sehr professionell ist und gut ausgebildete Offiziere hat, die das Ruder herumreissen konnten.

Russland kontrolliert mittlerweile etwa 20 Prozent der Ukraine und macht im Donbas stetig Fortschritte. Was sind die Gründe für den Erfolg der Russen?
Das liegt zum einen sicherlich an der neuen Taktik. Die Russen setzen jetzt auf massive Artillerieschläge und marschieren langsam voran. Zudem gibt es jetzt eine klarere Führungsstruktur und die Kräfte werden gebündelt. Sie greifen nicht mehr an mehreren, voneinander weit entfernten Fronten an, sondern haben enger definierte Ziele.

Tamara Cubito ist seit 2014 an der Dozentur für Militärgeschichte der Militärakademie an der ETH Zürich tätig. Ihre Dissertation zu feindlichen Ausländern in Britischen Kolonien während des Ersten Wel ...
Tamara Cubito ist seit 2014 an der Dozentur für Militärgeschichte der Militärakademie an der ETH Zürich tätig. Ihre Dissertation zu feindlichen Ausländern in Britischen Kolonien während des Ersten Weltkriegs schloss sie 2020 ab. Die entsprechende Buchpublikation ist derzeit in Planung.bild: zvg

Werden die Russen weiterhin an Boden gutmachen im Donbas?
Es stellt sich die Frage, was die Russen jetzt machen. Möglicherweise wollen sie jetzt eine temporäre Konsolidierung in den eroberten Gebieten und legen einen Halt ein. Es könnte aber auch sein, dass sie zumindest punktuell weiter drücken, um herauszufinden, wie stark die neuen ukrainischen Verteidigungslinien sind. Sollten sie dort auf Schwächen stossen, könnten sie das Momentum ausnutzen.

Mittlerweile setzen die Ukrainer ein hochmodernes Raketensystem aus den USA ein – das sogenannte HIMARS. Wird sich das Blatt damit wenden?
Die Ukrainer jubeln diese Waffe jetzt hoch. Das ist auch logisch, denn sie wollen noch mehr davon und sie taugt ja auch etwas. Bis jetzt sollen acht HIMARS in der Ukraine angekommen sein, vier davon sind angeblich an der Front im Einsatz. Allerdings gibt es bereits Berichte, wonach zwei zerstört wurden. Auch wenn die USA jetzt nochmals vier Exemplare liefern werden, wird diese Waffe nicht kriegsentscheidend sein. Die Ukrainer können mit HIMARS unter Umständen die Russen an empfindlichen Stellen treffen, aber die für die Ukrainer so wichtigen Gebietsgewinne sind damit noch nicht gemacht.

Die alles entscheidende Waffe gibt es also nicht?
Die extremste Waffe, die je in einem Krieg eingesetzt wurde, ist wahrscheinlich die Atombombe, von denen im Zweiten Weltkrieg zwei über Japan abgeworfen wurden. Selbst da ist umstritten, ob sie den Krieg wirklich entschieden und Japan zur Kapitulation gezwungen haben. Mindestens genauso wichtig war der zeitgleiche Einmarsch der Sowjets in der Mandschurei. Wenn selbst die Atombombe nicht kriegsentscheidend war, glaube ich auch nicht, dass es das HIMARS in der Ukraine wird. Zumal sich auch die Frage stellt, ob die Ukrainer langfristig in der Lage sein werden, die Waffe zu warten.

Stimmt, die Wartung dürfte auch einiges an Expertise benötigen ...
Je moderner und komplexer die Waffensysteme sind, desto besser sind sie in der Regel. Aber oft gestaltet sich dann auch die Wartung komplizierter. Das heisst, man braucht gut ausgebildete Mechaniker sowie genügend Ersatzteile. Teilweise ist es bei modernen Waffen wirklich extrem: Wenn ein kleines Teil fehlt oder defekt ist, funktioniert unter Umständen das ganze System nicht mehr. Dieses Problem darf man nicht unterschätzen. Wegen der HIMARS werden die Ukrainer den Krieg nicht gewinnen. Man darf dabei nicht vergessen, dass sich das Kräfteverhältnis derzeit immer mehr zugunsten der Russen verschiebt.

Ist das wirklich so?
Ja.

Erläutern Sie.
Die Russen haben viel mehr Reserven, die sie einsetzen können. Die Ukrainer kämpfen derweil vermutlich nahe am Limit. Seit Februar gehen die Verluste, Verwundete inklusive – auch wenn diese Zahl je nach Phase natürlich stark variiert – jeden Tag in die Hunderte. Rechnen Sie das mal hoch! Die Ukrainer verfügen nicht über ein unerschöpfliches Reservoir für den Ersatz.

FILE - Relatives and friends attend the funeral of Melnyk Andriy, 23, a Ukrainian military servicemen who as killed in Kharkiv province, in Lviv, Ukraine, Saturday, May 14, 2022. Ukraine's Defens ...
Trauerfeier für einen gefallenen ukrainischen Soldaten: Die Zahl der Opfer geht jeden Tag in die Hunderte. Bild: keystone

Auf Seiten der Ukrainer klingt das aber teilweise ganz anders. Nach dem mutmasslichen HIMARS-Schlag bei der Stadt Nowa Kachowka kündigte Präsidentenberater Olexij Arestowitsch an, dass dies der Startschuss zur Befreiung des Südens sei.
Vielleicht wird es der Ukraine gelingen, einige kleine Dörfer im Süden zu befreien. Aber kurz- bis mittelfristig ist eine Befreiung des gesamten Südens komplett unrealistisch. Dazu müssten sie eine Grossoffensive starten …

... und bisher haben sie sich vorwiegend verteidigt.
Genau, das ist ein gewaltiger Unterschied. Für eine erfolgreiche Offensive benötigt man gemäss Experten eine 3:1-Überlegenheit, was die Truppenstärke angeht, und selbst diese Formel kann man hinterfragen. Dieses Minimum ist aufseiten der Ukrainer momentan nicht realistisch. Sie können ja nicht plötzlich alle Kräfte auf den Süden konzentrieren. Den Donbas müssen sie auch verteidigen und die Nordgrenze dürfen sie ebenfalls nicht vernachlässigen. Man weiss ja nicht, ob die Belarussen nicht plötzlich auch noch in den Krieg eintreten.

Was bräuchte es für eine erfolgreiche, grossflächige ukrainische Gegenoffensive sonst noch?
Eine Grossoffensive braucht unter anderem viel Planung, Material und Munition. Die Koordination der verschiedenen Waffen ist sehr komplex und man muss genügend Reserven haben, die man zur richtigen Zeit am richtigen Ort einsetzen kann. Die Soldaten müssen für eine Offensive ausgebildet sein und diese auch geübt haben. Ich sehe nicht, wie die Ukraine dies unter den aktuellen Umständen hinbekommen könnte.

So sieht eine HIMARS in Aktion aus

Video: youtube/Lockheed Martin
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113 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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manhunt
14.07.2022 07:15registriert April 2014
gsnze landstriche in schutt und asche zu legen, um dem gegner sämtliche objekte zu nehmdn, welche eine territoriale verteidigung überhaupt noch ermöglichen, hat auf russischer seite kaum mit „fähigen“ offizieren zu tun. es widerspiegelt vielmehr deren materielle überlegenheit. und wenn man bedenkt, unter welchen verlusten die russen landgewinne erzielt haben, kann man auch nicht von kluger taktik reden. eher von totaler gleichgültigkeit der führung, gegenüber von soldaten und material.
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Hierundjetzt
14.07.2022 07:18registriert Mai 2015
Nur die Russen haben 2 Himars-Abschüsse angegeben.

Damals waren aber die ukrainischen Besatzungen noch in der Ausbildung in Deutschland…

Zudem verschiessen die Russen aktuell Seeraketen, entwickelt gegen Flugzeugträger auf Wohnblöcke. Die haben keine Marschflugkörper gegen Himars mehr.

Wenn man die Schwerpunkte auf den Nachschub der Russen legt, reicht das aktuell aus.

Die Russen werfen Panzer von 1960 (Bei uns damals der Centurion) in die Schlacht, weil alles andere zerstört ist.

Aber ja: Dank den 50‘000 Artillerie-Schuss / Tag kommen Sie langsam aber stetig voran :/
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Sitzplätzler
14.07.2022 07:29registriert April 2017
Ich finds immer wieder krass, wenn über den Krieg wie über ein Fussballspiel geschrieben wird mit Taktik, Vorteilen, Abläufen....wenn man da bedenkt, wieviel Leid produziert wird.
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