Die finnische Regierung kündigte am Donnerstagmorgen ihren Willen an, dass das bislang neutrale Finnland «unverzüglich» der NATO, dem grossen westlichen Militärbündnis, beitreten könne. Die russische Reaktion erfolgte sofort. Es betrachtet den Beitritt Finnlands zur Atlantischen Allianz als eine «Bedrohung» für sich selbst. «Die NATO bewegt sich auf uns zu», sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow gegenüber der Agentur Interfax.
Warum fordert Finnland, das seit 1948 ein neutrales Land ist, den «sofortigen» Beitritt zur NATO?
Jussi Hanhimäki: Der russische Angriff auf die Ukraine am 24. Februar war der grosse Auslöser. Die Bevölkerung in Finnland hat Angst bekommen. Die Finnen, die eine über 1300 Kilometer lange Grenze zu Russland haben, fühlten sich plötzlich verwundbar. Vor dem 24. Februar befürworteten nur 30 % einen NATO-Beitritt. Dieser Anteil liegt nun bei 70 %. Das bedeutet, dass eine Mehrheit der Finnen der Meinung ist, dass ihr Land nicht mehr durch seine Neutralität vor der russischen Bedrohung geschützt ist. Die Situation in der Ukraine ist ein Beispiel: Es wird angenommen, dass Russland in die Ukraine einmarschieren konnte, weil sie nicht Mitglied der NATO war.
Warum waren vor dem 24. Februar nur 30 % der Finnen für den Beitritt ihres Landes zur NATO?
Weil sie sich nicht in ihrer Existenz bedroht fühlten. Zuvor waren sie fast 80 Jahre lang der Meinung, dass die Neutralität ihre beste Sicherheitsgarantie sei. Heute ist das nicht mehr der Fall.
Ihre Neutralität wurde Ihnen jedoch von der Sowjetunion aufgezwungen...
Ja, und wir hatten uns damit abgefunden. 1948 unterzeichneten Finnland und die UdSSR einen Pakt, in dem Finnland auf den Beitritt zu einem Militärbündnis verzichtete, wenn die Sowjetunion sich verpflichtete, Finnland nicht zu überfallen, wie sie es mit den baltischen Staaten tat. Daher der Begriff «Finnlandisierung», der während des Kalten Krieges in Mode war und die Idee einer eingeschränkten Souveränität ausdrückte.
Wann hörte der Pakt auf zu existieren?
Nach dem Zusammenbruch der UdSSR im Jahr 1991. Da die UdSSR nicht mehr existierte, verlor der Pakt seine Daseinsberechtigung. Finnland beschloss, den Pakt einseitig zu beenden.
Was geschah während des Zweiten Weltkriegs zwischen Finnland und der ehemaligen UdSSR?
Im Winter 1939/40 kam es zu einem Krieg zwischen der ehemaligen UdSSR und Finnland. Die Sowjets marschierten in Karelien ein, das damals zu Finnland gehörte und im Osten des Landes lag. Nach einem dreimonatigen Konflikt unterzeichneten die beiden Parteien einen Friedensvertrag, wobei Finnland einen Teil Kareliens an die UdSSR abtrat. Nachdem Deutschland den Deutsch-Sowjetischen Pakt gebrochen hatte, griff Finnland 1941 gemeinsam mit Deutschland die UdSSR an, um die ein Jahr zuvor abgetretenen Gebiete zurückzuerlangen. Diese gemeinsame Aggression mit Nazi-Deutschland erklärt auch die harten sowjetischen Bedingungen am Ende des Krieges.
Wie war der Status von Finnland vor dem Zweiten Weltkrieg?
Finnland erlangte nach dem Ersten Weltkrieg seine Unabhängigkeit. Es suchte nach Sicherheitsgarantien, indem es sich Schweden und den baltischen Staaten annäherte. Die Neutralität war damals nur eine Option.
Aus welcher Region Finnlands stammen Sie selbst?
Aus der Region um die Hauptstadt Helsinki im Süden Finnlands, etwa 400 km von der russischen Grenze entfernt. Ich habe dort meine ganze Familie.
Sind Sie persönlich dafür, dass Finnland der NATO beitritt?
Mit welchen Vergeltungsmassnahmen muss Finnland rechnen, nachdem es beschlossen hat, sich um die Mitgliedschaft in der NATO zu bewerben?
Finnland könnte die Erdgasversorgung unterbrechen, da es wie andere Länder von russischem Gas abhängig ist. Russland könnte auch Cyberangriffe durchführen oder versuchen, die finnische Meinung über das Internet zu beeinflussen.
Wie schnell könnte Finnland der NATO beitreten?
Das finnische Parlament wird Anfang nächster Woche zusammentreten, um darüber abzustimmen. Es besteht kaum Zweifel daran, dass es sich für den Beitritt aussprechen wird, wie es der Präsident und der Premierminister bereits getan haben. Danach wird es an den 30 NATO-Mitgliedern liegen, den Antrag Finnlands anzunehmen oder abzulehnen. Die Atlantische Allianz wird dies voraussichtlich auf ihrer Tagung im Juni in Madrid erörtern. Normalerweise dauert es sechs bis acht Monate, aber hier könnten die Dinge schneller gehen, was Finnland wünscht.
Könnte das den Alltag der Finnen, die an der Grenze zu Russland leben, beeinträchtigen?
Nicht wirklich. Es gibt keinen täglichen Pendlerverkehr zwischen den beiden Ländern, wie z. B. zwischen Frankreich und der Schweiz. Es gibt keine Russen, die jeden Tag nach Finnland kommen, um dort zu arbeiten. Es ist sehr ruhig, wenn man so will. Seit dem 24. Februar, und hier steht es im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine, ist die Zugverbindung zwischen Helsinki und St. Petersburg unterbrochen.
Haben sich im Laufe der Zeit Freundschaftsbeziehungen zwischen Russland und Finnland entwickelt?
Ja, es gibt Freundschaftsgesellschaften und kulturelle Beziehungen zwischen den beiden Ländern. Am vergangenen Wochenende gab es in Helsinki pro-russische Demonstrationen, die nicht sehr erfolgreich waren.
Gibt es gemischte Ehen zwischen Russen und Finnen?
Ja, natürlich, und nach dem 24. Februar ist die Situation für gemischte Paare kompliziert geworden. Ausserdem besitzen Russen Immobilien in Finnland.
Sind Sie als Finne von diesem Wandel berührt oder bewegt?
Als Historiker versuche ich, von der laufenden Geschichte losgelöst zu sein. Aber ja, in meinem Leben ist es eine Veränderung. Und es ist eine grössere Veränderung als der Beitritt Finnlands zur Europäischen Union nach dem Ende des Kalten Krieges. Hier würde ich sagen, dass es sich um eine noch ernstere Veränderung handelt, denn es geht um die Sicherheit.
Glauben Sie, dass die Schweiz, deren Neutralität eine andere Geschichte hat als die Finnlands, eines Tages der NATO beitreten könnte?
Die Schweiz? Sie ist weit entfernt von der russischen Bedrohung. Ihre geografische Lage ist nicht mit der Finnlands vergleichbar.
Genau diese Bedrohung von der er spricht, sehen Finnland und Schweden in Russland. Wobei die Bedrohung von Russland realer ist als umgekehrt, wie man in der Ukraine sieht. Finnland sucht bloss die Sicherheit, solange die noch können. Nicht dass es ihnen ergeht wie den Ukrainern.
Putin Aggression trieb sie in die Nato, nicht umgekehrt.
In Wirklichkeit haben Russlands Nachbarländer Angst vor einer Expansion, vor einem "Großrussischen Reich", welches Putin anstrebt. Zudem hat er ja gezeigt, wie er Verträge bricht und kein verlässlicher Partner mehr ist.
Da wirkt die NATO als sicherer Hafen!
Putin kann ja auch in die NATO eintreten, dann wäre seine "Bedrohung" weg...😃
Aber Leute wie er brauchen ein klares Feindbild für ihre diktatorische Politik 😧