Die Europäische Union steht derzeit vor den grössten Herausforderungen ihrer Geschichte. Am Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos wird auch ein möglicher Worst Case nicht verschwiegen – ein Auseinanderbrechen der EU.
Alle Teilnehmer der Diskussionsrunde über die «Zukunft Europas» nannten am Donnerstag ein «Scheitern des europäischen Projekts» als mögliches Szenario. Das Auseinanderdriften der EU-Länder diente als Drohkulisse für die Regierungschefs Frankreichs, Griechenlands und der Niederlande sowie dem deutschen Finanzminister.
«Wir müssen mit dem Gefühl leben, dass Europa in den kommenden Jahren auseinanderbrechen könnte», sagte der französische Premierminister Manuel Valls. «Das Europa-Projekt kann scheitern, wenn wir die Sicherheits- und die Flüchtlingsfrage nicht klären können.»
Als dringendstes Problem wird die Flüchtlingsfrage angesehen. Die Zeit dränge, war der niederländische Premierminister Mark Rutte überzeugt: «Wir müssen in den kommenden sechs bis acht Wochen die Flüchtlingsfrage klären, weil mit dem Frühling mehr Flüchtlinge nach Europa kommen werden.» Und mit den steigenden Zahlen könnten die EU-Länder nicht alleine klarkommen.
Einen Tag nach der Ankündigung Österreichs, künftig die Zahl aufgenommener Flüchtlinge zu beschränken, hatten die Podiumsteilnehmer aber keine neuen Vorschläge anzubieten. Rutte forderte erneut, die Infrastruktur in Italien und Griechenland für die Flüchtlingsaufnahme müsse gestärkt werden, und die EU-Aussengrenzen müssten gemeinsam kontrolliert werden. Zudem müsse das Dublin-Verfahren reformiert werden.
Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble will mit Milliardenzahlungen an die Krisengebiete, aus denen die Flüchtlinge kommen, den Druck auf Europa senken. Er schlug eine Art Marshall-Plan für die Nachbarländer vor, die von Krieg zerstört wurden. Er warnte aber: «Dies wird die EU mehr kosten, als wir gedacht haben.»
Der Streit in der EU über Verteilungsmechanismen für Flüchtlinge habe sich als fruchtlos erwiesen. Deshalb plädiere er für eine «Koalition der Willigen» – wer Geld geben könne zur Versorgung von Flüchtlingen in deren Region, der solle dies tun. Deutschland habe dafür derzeit mehr finanziellen Spielraum.
Unisono appellierten Politiker auch an die Solidarität aller europäischer Länder – eine Kritik, die sich implizit an die Länder Mittel- und Osteuropas richtete, die ohne Absprache mit Brüssel eigene Massnahmen gegen den Flüchtlingsstrom aus den Krisengebieten im Nahen und Mittleren Osten ergreifen.
«Die EU ist keine Union à la carte», sagte der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras. Alle müssten Verantwortung übernehmen, wenn es Probleme gebe; die Belastung müsste zusammen getragen werden. Tsipras forderte deshalb einen Umsiedlungsmechanismus für Flüchtlinge, die in einem EU-Land ankommen – «aber alle EU-Länder müssen teilnehmen».
Ein erster Schritt im Zerfall der EU droht schon bald: Voraussichtlich noch in diesem Jahr dürften die Britinnen und Briten über einen Austritt aus der Union abstimmen. Umfragen deuten auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen hin, mit leichten Vorteilen für die Brexit-Befürworter.
«In einer Zeit wie dieser wäre ein Austritt Grossbritanniens aus der Union ein Drama», sagte Premierminister Valls. Er plädierte deshalb in den Verhandlungen zwischen London und Brüssel für einen Kompromiss, der es den Briten erlaube, in der EU zu verbleiben.
«Ich hoffe, dass der EU-Gipfel im Februar eine entscheidende Etappe in diese Richtung sein wird.» Aber es stehe ausser Frage, dass man einfach jede Bedingung Grossbritanniens annehmen dürfe. (whr/sda)