Ji Cheng bestritt bisher in seiner Karriere jede der drei grossen Rundfahrten einmal. 2012 an der Vuelta wurde er 175. und Letzter. 2013 gab er den Giro nach der 5. Etappe auf und 2014 beendete er die Tour de France als «Lanterne Rouge» auf dem 163. Rang. Doch das ist ihm egal. Denn der «Fluchtgruppenkiller» wird im Feld mehr als respektiert.
«Fluchtgruppenkiller» ist durchaus ein positiver Übername. Es hört sich zwar mehr nach Guido Buchwald, als Diego Maradona an, doch bekanntlich stoppte Ersterer den Zweiten im Fussball-WM-Final 1990 ja.
Ji Cheng ist der «Fluchtgruppenkiller». Verpasst wurde ihm der Name 2012 bei der Vuelta. Für seinen damaligen Sprintstar John Degenkolb hetzte der Chinese den Ausreissern hinterher, führte das Feld jeweils wieder heran und war massgeblich an Degenkolbs fünf Etappensiegen beteiligt. Der Lohn war die Auszeichnung zum «kämpferischsten Fahrer», die Schattenseite der 175. und letzte Platz. Seither ist Cheng im Fahrerfeld bekannt. Dieses Jahr durfte er erstmals an der Tour de France starten.
Von einem Quotenplatz zu reden wäre ungerecht. Teamsponsor Shimano vom Giant-Shimano-Team, zu dem auch Champs-Elysées-Sieger Marcel Kittel gehört, gibt zwar offen zu, dass der asiatische (Werbe-)Markt erobert werden soll. Cheng kam im Rahmen eines Spezialprogramms 2007 zum Team. «Er kam gleich zu Beginn, als wir vor sechs Jahren den Rennstall aufbauten», blickt der sportliche Leiter Marc Reef gegenüber dem «Tagesspiegel» zurück. Nach all den Jahren hatte er sich irgendwann durchgesetzt und durfte an die Tour de France.
Allein sieben chinesische Journalisten begleiteten den Tross mehrheitlich wegen ihrem Fahrer. In China wurde die Tour täglich während zwei Stunden übertragen. «Er ist sehr populär. Mehrere Millionen Chinesen schauen jeden Tag zu», erklärt TV-Journalistin Xin Wang «radsport-rennrad.de». Das Interesse an der «grand boucle» sei mit Cheng extrem angestiegen.
Cheng ist in seiner Heimat das Gesicht des Radsports. Doch wie gesagt: Exotenbonus gibt es nicht. Jens Voigt beklagte sich während dieser Tour: «Du kommst einfach nicht weg. Die Sprinterteams beginnen schon bei drei Minuten Rückstand voll Tempo zu geben. Das gab es vorher nicht.» Cheng ist eben einer dieser «Fluchtgruppenkiller».
Dabei sagte dem 27-Jährigen der Radsport bis 2002 nicht viel. Er betrieb Leichtathletik und versuchte sich insbesondere über Mittelstrecken. «Mein Trainer sagte mir, ich soll doch von der Leichtathletik zum Radsport wechseln», erzählt Cheng dem «Tagesspiegel». Der damals 15-Jährige hörte auf seinen Trainer. Er setzte sich in harten Auswahlverfahren durch:
Trainingslager mit diversen Leistungstest – nach Hause, – warten auf die Resultate – bestanden – nächstes Trainingslager mit Leistungstest – wieder nach Hause – wieder bestanden. Am Ende erhielt er ein Rennrad. Allerdings nicht für sich alleine, das Gefährt musste geteilt werden: «Vor jedem Training musste man die Sattelposition neu einstellen – das war ganz anders als in Europa.»
War Cheng zu Beginn von der Leichtathletik her noch schmächtig und wog rund 54 Kilogramm, legte er in den folgenden Jahren an Muskeln zu, was auch zu besseren Resultaten führte. 2006 stiess Cheng zum Continental Team «Purapharm», 2007 wechselte er zum Shimano-Programm.
In Europa verbringt er heute die Hälfte des Jahres. Nur in den Wintermonaten kehrt er zurück nach China zu seiner Frau. Ansonsten telefoniert er oft. Da kommt ihm das Einzelzimmer entgegen, das er sich «verdient» hat, weil er angeblich so laut schnarcht.
Warum aus dem ehemaligen Leichtathleten ein so guter «Fluchtgruppenkiller» wurde, ist für ihn klar: «Wir haben nicht nach Zeit, sondern nach Kilometern trainiert. Unser Trainer sagte uns: ‹Heute fahren wir 180 km.› Und dann ging es los. Jeder führte einen Kilometer lang. Es war egal, wie spät es wurde, bis wir wieder heimkamen.» Aufgrund dieser Erfahrung fährt er gerne an der Spitze des Feldes: «Es ist einfacher für mich und bedeutet weniger Stress als im Peloton meine Position zu suchen. In Europa gibt es so viele Kurven und Kreisverkehre, bei denen man aufpassen muss. In China geht es immer geradeaus, oft sogar auf vierspurigen Strassen.»
Mit der Rolle als «Fluchtgruppenkiller» hat sich der Exot bestens abgefunden: «Ich arbeite daran, dem Namen jeden Tag gerecht zu werden.» Bei seiner ersten Tour erfüllte Cheng seinen Job gut. Leader Kittel lobte ihn genauso wie Degenkolb. Beide wünschten ihm während der Tour, dass er es bis nach Paris schafft. Denn der Tempobolzer zahlt für seine Arbeit oft Tribut und fällt gegen Ende der Etappen noch zurück.
Aber den Kontrollschluss hat er trotz über sechs Stunden Rückstand auf Nibali immer geschafft. Um ein Haar wäre der Traum von der Ziellinie auf der Champs-Elysées geplatzt. In der letzten Etappe wird Cheng 43 Kilometer vor dem Ziel in den Sturz von Jean-Christophe Péraud verwickelt. Er fliegt über den Lenker und geht zu Boden. Glücklicherweise passiert nichts schlimmeres.
Cheng erreicht Paris und wird im Gesamtklassement mit 6:02,24 Stunden Rückstand als 163. und Letzter geführt. Allein auf den zweitletzten Fahrer verliert er 50:26 Minuten.