Schlafen Sie mit gutem Gewissen ein?
Pierre-Yves Maillard: Ja, ich versuche immer, so nahe wie möglich an meinem Gewissen zu bleiben. Bisher gelang mir das. Auch zu den Überzeugungen der Gewerkschaftsbewegung.
2018 waren der Gewerkschaftsbund und Aussenminister Ignazio Cassis noch beste Feinde …
… ich habe keinen Feind. Logischerweise bin ich politisch nicht immer mit allem einverstanden …
… weil Cassis die flankierenden Massnahmen infrage stellte. Heute wollen Sie Seite an Seite mit Cassis für die neuen EU-Verträge kämpfen.
Das Rahmenabkommen war inakzeptabel. Wir hielten es für unmöglich, dieses Projekt zu retten. Den neuen Basisvertrag mit den inneren Kompensationsmassnahmen könnten wir aktiv unterstützen, sofern das Parlament sie nicht schwächt. Natürlich braucht es noch Verifizierungen.
Weshalb hielten Sie das Rahmenabkommen für nicht rettbar?
Mit ihm wollte man unseren Lohnschutz grundsätzlich infrage stellen und den EU-Regeln anpassen, vor allem in drei Punkten: Intensität der Kontrollen, sozialpartnerschaftliches System und Gefahr von neuen Schwächungen bei zukünftigen Rechtsübernahmen.
Wie war das mit der Intensität der Kontrollen?
Das war ein absolut zentraler Punkt. Wir können so viele Gesamtarbeitsverträge abschliessen, wie wir wollen. Gibt es keine Kontrollen, bleiben sie ein Papiertiger. Wir kontrollieren heute in gewissen Branchen bis zu einem Drittel der Unternehmen, die Arbeiter entsenden. Die EU wollte diese Kontrolldichte stark reduzieren.
Was war mit dem sozialpartnerschaftlichen System?
In der Schweiz führen Arbeitgeber und Gewerkschaften die Kontrollen in paritätischen Kommissionen selbst durch und sprechen auch Sanktionen aus. In der EU büsst hingegen nur der Staat. Er ist auch für die meisten Kontrollen zuständig. Die EU wollte staatliche Kontrollen. Nur: Der Staat kontrolliert viel seltener. Das zeigen unsere Erfahrungen mit den Kantonen.
Welches Problem gab es mit der dynamischen Rechtsübernahme?
Die EU hätte mit der Liberalisierung des Arbeitsmarktes so weit gehen können, dass wir keinen Schutz mehr gehabt hätten. Wir hätten in Zukunft Verschlechterungen des Lohnschutzes in der EU übernehmen müssen. Hier fehlte uns eine Garantie.
Haben sich diese Probleme in Luft aufgelöst?
Die EU überlässt die Intensität der Kontrollen der Schweiz, akzeptiert das sozialpartnerschaftliche System und gesteht der Schweiz die «Non-Regression-Clause» zu. Das heisst: Wir müssen bedeutende Abschwächungen beim Lohnschutz nicht übernehmen. Das neue Paket ist also deutlich besser. Nur genügt es noch nicht.
Weshalb?
Es erschwert die Kontrollen und erlaubt es den ausländischen Firmen, ihre Leute nicht mit den vollen Schweizer Spesen zu entschädigen.
Deshalb verhandelten die Sozialpartner. Weshalb kam es – nach langem Patt – zur Einigung?
Irgendwann haben unsere Verhandlungspartner verstanden, dass wir wirklich Nein sagen zum neuen Paket, wenn gewisse Punkte nicht geregelt sind. Lange hatten sie gehofft, dass wir am Ende kippen.
Sie markierten nach aussen Härte. Sah das nach innen auch so aus?
Für uns war klar: Wenn wir psychologisch nicht bereit sind, eine aktive Nein-Kampagne ohne Gewissensbisse zu führen, haben wir keine Chance.
Sie wären tatsächlich bereit gewesen, mit der SVP ins Boot zu steigen?
Nicht mit der SVP. Wir hätten unsere eigene Kampagne mit eigenen Argumenten geführt.
Aber Sie hätten eine unheilige Allianz in Kauf genommen?
Ach, wissen Sie: Wenn wir mit den Arbeitgebern für ein Ja kämpfen, ist das für die Gewerkschaften auch nicht gerade eine heilige Allianz. Es gab dann einen Wendepunkt in der Debatte.
Welchen?
An der berühmten Medienkonferenz vom 20. Dezember 2024 zum Ende der Verhandlungen mit der EU hat Helene Budliger Artieda, Direktorin des Staatssekretariats für Wirtschaft, erstmals gesagt: Der Lohnschutz wird geschwächt. Beim Rahmenabkommen hatte der Bundesrat das noch negiert. Damit wurde klar: Es kam – erstmals überhaupt – zu Rückschritten des Lohnschutzes bei den Bilateralen.
Welche Folgen hatte die Erklärung?
Sie gab den innenpolitischen Verhandlungen Schub. Zuvor hatten sich die Arbeitgeber hinter den Parolen des Bundesrats versteckt. Sie wehrten sich gegen substanzielle Kompensationsmassnahmen.
Was haben Sie in diesen Verhandlungen erreicht?
Es gibt jetzt vierzehn Massnahmen, die die Schwächungen des Lohnschutzes kompensieren. Zum Beispiel wird die Erneuerung von allgemein verbindlichen Gesamtarbeitsverträgen erleichtert und die Verantwortlichkeit der Bauherren bei Missbräuchen im Lohnschutz verstärkt. Zudem sind Schweizer Spesen im Gesetz verankert.
Insgesamt sind Sie sehr zufrieden?
Wir haben ein gutes Gleichgewicht erreicht. Damit können wir auf unsere alte Position in Sachen EU zurückkehren: Sofern sie die Interessen der Arbeitnehmenden nicht schwächt, ist eine Regelung unseres Verhältnisses zur EU im Interesse des Werkplatzes Schweiz. Gerade auch, weil wir sehen, was in den USA abläuft.
Donald Trumps Zollkrieg lässt die EU wichtiger werden?
Ja. Eine klare juristische Regelung mit einem grossen Partner schützt uns vor willkürlichen Entscheiden. Natürlich sorgt die dynamische Rechtsübernahme mit der EU für eine gewisse Asymmetrie. Aber sie ist immer noch besser als reine Machtpolitik.
Mit welchen Parolen wollen Sie für die Verträge mit der EU werben?
Wir müssen zuerst die 1800 Seiten der Verträge im Detail prüfen und das Resultat der Parlamentsdebatte abwarten. Wir haben beim BVG erlebt, dass das Parlament einen Kompromiss der Sozialpartner komplett verändert hat, obwohl er sogar vom Bundesrat abgesegnet war. Am Ende des Prozesses trifft eine Delegiertenversammlung den Entscheid.
Gar nicht einverstanden sind Sie mit dem Stromabkommen. Weshalb?
Hier geht es um eine Kernfrage. Es geht um Prinzipien und um die Bodenhaftung, die man schnell verlieren kann in derart technischen Diskussionen wie beim Stromabkommen.
Wie meinen Sie das?
Ich erläutere es an einem Beispiel. Hätten wir Grande Dixence in einem liberalisierten Markt gebaut? Ich sage Nein. Diese Staumauer von 285 Metern Höhe erforderte in den 1950er- und 1960er-Jahren riesige Investitionen. Bei einem so monumentalen Werk stellt sich eine entscheidende Frage: Können wir die Investition amortisieren? Wegen der Investitionssicherheit wickelten alle Bürgerlichen – nicht die Sozialdemokratie – die gewaltigen Investitionen in Wasserkraft und Elektrizitätsnetze über ein Monopol ab.
Ein Monopol hat heute einen schlechten Ruf.
Ja, aber es garantiert Energiekonzernen eine stabile Kundschaft, mit der sie ihre Preise kalkulieren und die Investitionen amortisieren können. Stromproduktion und Stromtransport wurden überall als natürliches Monopol gesehen. Deshalb müssen Investitionen und Preise öffentlich-rechtlich kontrolliert werden. Die Schweiz hat die Elektrifizierung des ganzen Landes nach dieser Logik gestaltet.
Es geht Ihnen also um Ideologie: Sie wollen auf keinen Fall einen liberalisierten Strommarkt.
Mir geht es um Praxis, nicht um Ideologie. Während Jahrzehnten hatte niemand auf der Welt die Idee, den Strommarkt zu liberalisieren. Dann kam die Liberalisierungsideologie auf. Diese Ideologen bauten eine Fiktion auf: Der Kunde muss wählen können zwischen naturfreundlichem Biostrom oder billigem AKW- oder Kohlestrom. Aber auch wenn der Biostromkunde glaubt, seine Energie stamme aus sauberer Produktion in Finnland, erhält er denselben Strom wie sein Nachbar. Das ist total absurd.
Die Schweizer Stromkonzerne betonen aber, mit dem Abkommen werde der Strom billiger, die Energiewende gelinge besser und die Sicherheit sei grösser.
In der Schweiz gibt es Strombarönchen, die Strombarone werden möchten, wie es sie in der EU gibt. Aber sie werden von europäischen Oligopolisten gekauft werden.
Jetzt reden Sie wie Christoph Blocher.
Ich denke nicht. Herr Blocher wäre – grundsätzlich – auch in diesem Sektor für Liberalisierungen. Hier akzeptiert er es nicht, dass die Regeln von der EU beschlossen werden. Um den Gedanken mit den Strombaronen noch zu beenden: In einem globalen Markt wie in der EU ist die Grösse eines Unternehmens entscheidend. Deshalb werden uns diese Barone bald sagen: Unsere Unternehmen sind zu klein für diesen Markt. Es wird zu Fusionen und Privatisierungen kommen.
Die Befürworter betonen aber, der Strom werde mit dem Abkommen billiger.
In Europa stellt man seit der Strommarktliberalisierung ein neues Phänomen fest: Energie-Prekarität. Was heisst das? Hunderttausende in Europa können sich Strom nicht mehr leisten, weil er zu teuer ist. Das ist eine neue Realität. Es gibt noch eine zweite Realität.
Welche?
Die Strombarone in Europa machen bis zu 300 Milliarden Profit. Gleichzeitig subventioniert die EU die erneuerbaren Energien jedes Jahr mit über 100 Milliarden, weil sie im Markt kaum Chancen haben. Der Markt hat dazu geführt, dass Reservekapazitäten als Überkapazitäten betrachtet werden. Man schafft sie ab, um die Nachfrage ans Angebot anzugleichen. Die schöne neue Stromwelt der EU heisst also: Stromprekarität, unglaubliche Staatskosten, unglaubliche Profite für Strombarone. Genau das hatten wir 2002 vorausgesagt, als die Schweiz den Strommarkt liberalisieren wollte.
Schon damals kämpften Sie dagegen.
Wir waren nur 28 Personen im Nationalrat, die gegen die komplette Liberalisierung stimmten. Wir gehörten sogar in der SP-Fraktion zur Minderheit, auch weil wir gegen SP-Bundesrat Moritz Leuenberger antreten mussten. Wir hatten alle Strombarone gegen uns, alle Medien und alle sogenannten Experten. Wir führten nur eine kleine Kampagne mit wenigen Mitteln. Am Ende sagte das Volk Nein zur Liberalisierung. Das führte dazu, dass die ganze Liberalisierungswelle in der Schweiz stark gebremst wurde – zugunsten des Werkplatzes Schweiz.
Heute werfen Ihnen SP-Vertreter «bösen Willen» und «Lüge» vor.
Wissen Sie: Das bin ich gewohnt. Ich selbst attackiere nie Personen. Aber wir werden diese Animositäten auf uns nehmen müssen. Wir werden diese Debatte als Gewerkschaft führen.
Sie scheinen höchst entschlossen?
Ja. Schon die Teilliberalisierung, die wir gemacht haben, war ein Fehler. Was geschah? Vor zwei Jahren bettelten Unternehmen in der Teilliberalisierung darum, wieder ins Monopol zurückkehren zu dürfen. Sonst könnten sie nicht überleben. Die einzige Gemeinde im Kanton Waadt, die eine Marktlösung gewählt hatte, sah sich mit einer Preiserhöhung von 1600 Prozent konfrontiert. Jetzt sollen solche Risiken für die ganze Schweiz gelten? Das geht nicht.