Die Schweiz ist stolz auf ihr politisches System. Mit gutem Grund. Die direkte Demokratie ermöglicht ein Ausmass an plebiszitärer Mitsprache wie in keinem anderen Land. Für zusätzliche Bürgernähe sorgen «schlanke» Strukturen in Politik und Verwaltung. Zwar klagt man auch bei uns über die Bürokratie, aber es ist ein Jammern auf hohem Niveau.
Die Kehrseite sind eher langsame Entscheidungsprozesse, doch das nahm man in Kauf. In «normalen» Zeiten ist dies zumeist kein Problem. Aber wir leben seit zwei Jahren nicht mehr in normalen Zeiten. Die Schweiz und die Welt wurden durch zwei epochale Krisen erschüttert: die Corona-Pandemie und die Rückkehr des Angriffskriegs nach Europa.
Sie haben das Selbstverständnis gerade unseres von grossen Krisen verschonten Landes erschüttert. Und gesellschaftliche Verwerfungen erzeugt, die dazu führten, dass Mitglieder des Bundesrats sich kaum noch ohne Bodyguards in der Öffentlichkeit bewegen können. Und sie haben eklatante Schwächen in den Strukturen offengelegt.
Bei der Bewältigung von Corona hat sich die Schweiz ansprechend geschlagen. Auf ein solches Szenario vorbereitet aber war sie schlecht. Dabei gab es seit 2004 einen nationalen Pandemieplan. 2014 fand eine Pandemie-Übung statt und 2016 trat das Epidemiengesetz in Kraft. Man wusste, was zu tun war, aber als der Ernstfall eintrat, fehlten nicht nur Masken.
Warnungen vor einer russischen Invasion in der Ukraine gab es seit letztem Herbst. Als es am 24. Februar jedoch soweit war, wirkten Bundesrat und Verwaltung völlig überrumpelt. Besonders deutlich zeigte sich dies im Zickzack-Kurs bei der Übernahme der EU-Sanktionen. Die Geschäftsprüfungsdelegation (GPDel) des Parlaments reagierte darauf mit einem Brief.
Das Schreiben an den Gesamtbundesrat, über das zuerst die Zeitung «Le Temps» berichtete, sei «in einem für Bundeshaus-Verhältnisse bemerkenswert scharfen bis sarkastischen Ton verfasst», so die Tamedia-Zeitungen. Die für die Sicherheitspolitik zuständigen Gremien von Bundesrat und Verwaltung seien überhaupt nicht auf den Krieg vorbereitet gewesen.
So habe Armeechef Thomas Süssli nie an deren Sitzungen teilgenommen – nicht einmal nach Kriegsbeginn. «Allem Anschein nach herrscht im Verteidigungsdepartement und im Bundesrat die Meinung vor, dass die Frage des Kriegs in der Ukraine die Armee nicht betrifft», schnödete das höchste Kontrollorgan des Parlaments laut Tamedia.
Es ist keine neue Erkenntnis, dass es in Bundesbern an strategischem Weitblick und entsprechender Kompetenz mangelt. So ging es bei der erwähnten Übung von 2014 auch um eine mögliche Strommangellage. Erst jetzt jedoch reagierte Energieministerin Simonetta Sommaruga mit Sofortmassnahmen, etwa einer Winterreserve bei der Wasserkraft.
Ein weiteres Beispiel ist die Europapolitik, in der der Bundesrat planlos und ratlos wirkt. Im letzten Jahr beendete er die Verhandlungen über das Rahmenabkommen mit der EU, doch seither klammert er sich in erster Linie an das Prinzip Hoffnung. Auch in der Finanz- und Steuerpolitik (Stichwort Bankgeheimnis) sah der Bundesrat oft genug schlecht aus.
Das hat strukturelle Gründe, liegt aber auch an seiner heutigen Zusammensetzung. «Der Bundesrat verzweifelt an sich selbst», schrieb die «Schweiz am Wochenende». Er stecke «in einem historischen Formtief». Und in einem Kommentar der NZZ hiess es, die «angebliche Kollegialbehörde Bundesrat» gebe in diesen Tagen «ein betrübliches Bild ab».
«Zerstritten und unschlüssig stolpern die sieben durch die Ukraine-Krise», so die Zeitung. Das beginnt mit Bundespräsident Ignazio Cassis (FDP), der sich an einer Demo in Bern auf peinliche Art beim ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj anbiedert und handkehrum Mühe bekundet, klare Worte zum Massaker in Butscha zu finden.
Auffällig oft werde der Bundesrat in Bern als «dysfunktional» bezeichnet, schreibt die NZZ. Das mag übertrieben sein, ist aber nicht ganz falsch. Ein gutes Indiz für die Gemütslage im Bundesrat sind Indiskretionen an die Medien. Wenn das Kollegium harmoniert, sickert kaum etwas nach draussen. In letzter Zeit jedoch gab es ziemlich viele Indiskretionen.
Hinzu kommt eine Neigung zu Querschüssen und Sololäufen, besonders von Finanzminister Ueli Maurer (SVP). Dies führt dazu, dass Unterlagen häufig als «geheim» deklariert und möglichst spät abgegeben werden, teilweise erst während der Bundesratssitzung. «Dass dadurch die Qualität leidet, liegt auf der Hand», folgerte die «Schweiz am Wochenende».
Man kann einwenden, dass ausländische Regierungen mit grösseren «Apparaten» sich auch nicht als sonderlich krisenfest erwiesen haben. Dies aber darf den kritischen Blick auf eigene Mängel nicht vernebeln. Schliesslich gehört es zum nationalen Selbstverständnis, dass in der Schweiz grundsätzlich alles besser funktioniert als in anderen Ländern.
Was also ist zu tun? Einfache Rezepte gibt es wie so oft nicht. Ein Teil des Problems ist, dass talentierten Leuten gerade in der Schweiz viele Karrierechancen in der Wirtschaft offenstehen. In Politik und Verwaltung arbeiten häufig nicht die Besten und Klügsten, was in Krisenfällen zu Überforderung führt und selbst qualifiziertes Personal zermürbt.
Zumindest auf höchster Ebene, also beim Bundesrat, müssen Reformen zum Thema werden. Unsere Konkordanz-Regierung, in der alle grossen Parteien vertreten sind, hat ihre Vorzüge, aber sie ist tendenziell ein Schönwetter-System. In Krisenzeiten kann es zu parteipolitisch motivierten Reibungen kommen, wie sie derzeit zu beobachten sind.
Will man das System jedoch nicht auf den Kopf stellen, bieten sich zwei Wege an:
Der Bundesrat wird von sieben auf neun Mitglieder erweitert. Das bringt mehrere Vorteile. Die Ansprüche von Grünen und GLP auf einen Bundesratssitz könnten befriedigt werden. Und man könnte ein Präsidialdepartement schaffen, das die strategischen Leitlinien entwirft. Ein ständiger Regierungschef oder eine Chefin wäre auch gut für den Auftritt im Ausland.
Neu ist die Idee nicht. Es gab mehrere Anläufe in diese Richtung. Sie scheiterten spätestens im Parlament. Widerstand gibt es auch aus dem Bundesrat selbst. Er ist nicht an einer «Verwässerung» seiner Macht interessiert. Mit mehr Parteien im Bundesrat drohen mehr Eifersüchteleien und Verteilkämpfe. Und die Umsetzung würde Zeit und Energie kosten.
Einfacher realisieren liesse sich eine andere Idee: Der Bundesrat verabschiedet sich von der Konkordanz und wird zu einer Mitte-links- oder Mitte-rechts-Regierung, mit Koalitionsvertrag nach deutschem Vorbild. Das Regieren könnte dadurch kohärenter und verbindlicher werden. Konkret bedeuten würde dies, dass die SP oder die SVP in die Opposition müsste.
Umsetzen liesse sich dies schon bei der Gesamterneuerungswahl im Dezember 2023. Es wäre jedoch ein Bruch mit der spätestens seit der «Zauberformel» von 1959 bestehenden Tradition, alle relevanten Kräfte in die Regierung einzubinden, und keine Gewähr für eine bessere Zusammenarbeit. Und die strukturellen Mängel liessen sich damit nicht beheben.
Realistisch ist mittelfristig keiner der beiden Ansätze. Manche hoffen auf eine personelle Erneuerung. Im Ukraine-Krieg stehe dem Bundesrat ein langer Stresstest bevor, deshalb könnte «ein Rücktritt oder eine Abwahl aus der Regierung Ende 2023 für die eine oder den andern geradezu als Befreiung angesehen werden», meinte die «Schweiz am Wochenende».
Rücktritte sind möglich, vor allem die vier SVP- und SP-Mitglieder sind schon lange im Amt. Vor der Nichtwiederwahl eines amtierenden Bundesrats aber dürfte das Parlament zurückschrecken, allen Debatten über den zweiten FDP-Sitz und den Anspruch der Grünen zum Trotz. Und neue Köpfe garantieren nicht, dass der Bundesrat krisentauglicher wird.
Strategische Defizite mögen ein Problem demokratischer Systeme sein. Aber gerade jenes der Schweiz ist auf Stabilität und Kontinuität angelegt. Wahlen führen nicht zum Regierungswechsel. Umso mehr fragt man sich, ob es nicht besser geht.
Lobbyismus sollte massiv eingeschränkt werden. Oder alternativ komplett öffentlich.
Das allgemein. Zum Bundesrat konkret: wer in solch eine Position gewählt wird sollte verstanden haben, dass er zwar noch ein Vertreter seiner Partei ist, mehr als je zuvor aber vor allem der Schweiz dient!
Zum Punkt mit den Bodyguards: Himmeltraurig! Ich schäme mich für jeden Schweizer, der so was nötig macht!
Es braucht wieder weniger Gehässigkeiten, mehr Zusammenarbeit und die Fähigkeit, politische Niederlagen zu akzeptieren. Und evtl. würde eine Amtszeitbeschränkung auch nicht schaden.
Präsidialdepartement? Gerade jetzt der Ruf nach dem starken Mann oder der starken Frau? So wie in den lupenreinen Demokratien Russland, China oder Nordkorea (alle mir Parlament)? Echt jetzt?
Unser System ist gut, einige BR sind aber verbraucht