Herr Kessler, am Donnerstag stellte Alain Berset die Vorlage des Bundesrats zum Cannabis-Pilotversuch vor. Was halten Sie davon?
Thomas Kessler: Bundesrat Berset lieferte eine sehr pragmatische Arbeit ab, die Botschaft ist mehrheitsfähig und bedeutet einen gewissen Fortschritt. Anderseits sind die Fakten eigentlich längst bekannt.
Wenn die Fakten bekannt sind, warum braucht es dann überhaupt eine Studie?
Ich finde, man kann in der Drogenpolitik zwei Schritte vorwärts machen und sofort zur Regulierung schreiten. Anderseits bin ich ein grosser Freund von Forschungsprojekten. Man generiert dabei Daten zur helvetischen Realität, das kann nie schaden. Erkenntnisse zu Konsum, Umgang, Produktion sind übrigens auch sinnvoll bei legalen Produkten. Nur eben: Es darf auf keinen Fall dazu führen, dass das grundlegende Problem der Prohibition vernachlässigt wird.
Eine Aufhebung des Verbots beabsichtigt der Bundesrat mit dem Pilotversuch aber nicht, wie Berset während der Pressekonferenz mehrmals betonte.
Was er nicht sagte: Der Erkenntnisgewinn der Studie wird natürlich Argumente für eine Regulierung liefern. Das muss Berset so als Politiker nicht explizit aussprechen, aber es steht zwischen den Zeilen. Berset macht das korrekt und schlau.
Schauen wir uns die Vorlage ein bisschen genauer an: Der Bundesrat will Minderjährige ausschliessen. Das läuft doch völlig an der Realität vorbei, zehntausende Minderjährige konsumieren hierzulande Cannabis.
Nein, die Entscheidung des Bundesrats ist korrekt. Die Schädlichkeit der Substanzen in der Entwicklungsphase ist eindeutig erwiesen. Sei das bei Cannabis oder beim Alkohol oder anderen Substanzen. Für Minderjährige gilt: Hände weg. Man muss das auch klar kommunizieren: Es geht bei diesem Forschungsprojekt um Erkenntnisse zu Erwachsenen. Jede Regulierung wird einen Jugendschutz enthalten und Cannabis muss da gleich behandelt werden wie Liköre oder Spirituosen.
Personen, die Psychopharmaka konsumieren, sollen gemäss Bundesrat auch ausgeschlossen werden. Dabei gingen wichtige Erkenntnisse verloren, argumentieren Gesundheitsfachleute.
Dieser Ausschluss ist medizinisch und pharmakologisch begründet. Die Wirkung von Psychopharmaka und Cannabis-Produkten ist schwierig zu trennen. Da sollte man wissenschaftlich klar bleiben und auf Cocktails verzichten.
Besteht die Gefahr, dass man als Studienteilnehmer mit den Strafverfolgungsbehörden in Konflikt kommt?
Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Die Teilnehmer erhalten ja einen Ausweis. Und das Setting ist äusserst wissenschaftlich, in der Suchthilfe und Therapie etwa ist es gang und gäbe, dass Patienten offen über ihre Sucht reden und somit auch über illegale Substanzen. Den Arzt interessieren diese juristischen Fragen sowieso nicht, und die Strafverfolgungsbehörden haben weder die Motive noch die Ressourcen, um die wissenschaftliche Forschung zu stören.
Auch war umstritten, ob das Pilotversuch-Cannabis der Tabaksteuer unterstellt werden soll oder nicht. Der Bundesrat hat nun entschieden: Keine Steuer. Gute Idee?
Das ist aus meiner Sicht die richtige Entscheidung. Es wäre widersinnig gewesen, eine wissenschaftliche Studie zu besteuern, die man für die Behörden und Öffentlichkeit erstellt und auch Forschungsgelder einsetzt. Die Besteuerung wird erst relevant bei einer Regulierung.
Neben dem Pilotversuch sind verschiedene Cannabis-Vorstösse hängig. Könnte die Botschaft des Bundesrats Signalwirkung haben auf die Drogenpolitik in der Schweiz?
Denkbar ist es. Wenn man rational und problemlösungsorientiert argumentiert, stellen sich ähnliche Fragen etwa auch beim Kokain, wo die Schweiz ja ein Hochkonsumland ist. Die gesundheitlichen Fragen sind da noch viel dringender als beim Cannabis. Und auch Qualitätsfragen und Fragen zum Markt sind viel wichtiger als beim Hanf.
Sie sagen, es ist denkbar. Ist es auch realistisch?
Nein, der Diskurs ist noch nicht reif. Die Voraussetzung ist die gleiche wie beim Hanf: Wissenschaftler müssen das Thema pushen, Fachkreise müssen Stellung nehmen, Politiker sich dazu äussern – bis die Debatte in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Beim Hanf ist das naheliegender, nur schon wegen der grossen Verbreitung.
Sie haben selbst gesagt: Kokain ist in der Schweiz beliebt, jährlich werden immerhin 5 Tonnen konsumiert.
Ja, aber beim Kokain ist die Schwelle höher, das Produkt ist potenter und es ist teurer, auch wenn die Preise in den letzten Jahren gefallen sind. Der Bund wird sich erst auf so ein Projekt einlassen, wenn die Fachwelt so weit ist. Kommt hinzu, dass Kokain im Gegensatz zu Cannabis weniger in einem sozialen Setting konsumiert wird, die wissenschaftliche Begleitung müsste deshalb viel enger sein. Das Haupthindernis ist aber ein anderes.
Welches?
Wir haben wir es beim Kokain mit einer globalen Herausforderung zu tun. Beim Cannabis könnte die Schweiz problemlos autark produzieren, schon jetzt stammt mehr als 50 Prozent der konsumierten Menge aus einheimischer Produktion. Kokain auf der anderen Seite ist ein internationales Problem, ein blutiger Stoff, der ganze Gebiete hochgradig korrumpiert und zu unglaublich komplexen Verwerfungen führt.
Der Bundesrat will, dass die Versuchsteilnehmer nur zuhause kiffen dürfen. Sinnvoll?
Der Cannabis-Duft hat einen Riesenradius. Wenn Sie mit einem Joint im Park sitzen, riechen das alle Personen um sie herum. Wenn Sie ein Glas Bier trinken, merkt das niemand. Ausser, Sie haben eine fürchterliche Fahne.
CBD riecht genau gleich wie Cannabis und ist legal.
Ja, ich bin auch dafür, dass man seine Mitmenschen mit CBD-Duft verschont. Das gleiche bei den Villiger-Krummen oder den Stumpen. Das sind Anstandsfragen, die man hier halt formalisiert hat.
Wer garantiert, dass die Teilnehmer das Gras nicht weiterverkaufen?
Diese Befürchtung kann man gelassen nehmen. Das Risiko für den Studienteilnehmer ist viel zu hoch, der Gewinn zu klein. Die Nachfrage ist ja nicht vorhanden. Es ist nicht so, dass man zu wenig Cannabis hätte. Der illegale Markt ist hoch offensiv, man kann sich 24 Stunden am Tag und 7 Tage in der Woche Gras liefern lassen.
Aber man hat beim Schwarzmarkt nicht die Garantie, dass man sauberes Cannabis erhält.
Konsumenten, die Wert legen auf saubere Produkte oder Bio-Ware, wissen schon jetzt, wer was anbietet. Das Problem liegt im Importhandel, wo hochgezüchtete und mit Glasstoff gestreckte Ware eintrifft, vor allem aus den Niederlanden. Aber es stimmt schon, Konsumenten wollen keine Einheitsware. Das ist nur eine Folge der Prohibition. Bei Produkten, die legalisiert sind, wollen die Leute Vielfalt.
Seit Jahren kämpfen Sie für eine Regulierung des illegalen Cannabis-Markts. Warum eigentlich?
Die Prohibition ist kontraproduktiv, sie erreicht nichts, kostet aber enorm viel. Für die Aufrechterhaltung dieses Zustands zahlen wir jährlich 200 bis 400 Millionen Franken. Der illegalisierte Markt richtet viel Schaden an. Er wird implodieren, das ist klar, die Frage ist nur: wann.
Haben Sie eine Prognose?
Nein, aber eine Regulierung ist momentan noch weit weg. In der Politik wird in einer Kalten-Krieg-Logik argumentiert: ‹Weil Cannabis nicht gut ist, sollte man es verbieten›. Das ist absurd. Bei Waffen, beim Glücksspiel oder beim Tabak argumentiert man ja auch nicht so.
Die Schweiz ist ein langsames Land ...
Ja, Länder mit einem Regierungs- und Oppositionssystem können natürlich viel schneller entscheiden, als ein Land mit einer Konkordanz- und Kompromissdemokratie. Dennoch: Die Schweiz hatte jahrzehntelang international den Ruf, komplexe gesellschaftliche Fragen rational anzugehen. Nur so konnten wir die HIV-Epidemie eindämmen, das Heroinproblem lösen. Und die Schweiz hatte auch alle ideologisch geprägten Prohibitionen aufgehoben – zuletzt beim beim Absinth. Nur beim Cannabis haben wir ein Paradoxon.
Paradoxon?
Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung eine Regulierung befürwortet. Trotzdem bewegte sich im Parlament lange kaum etwas.
Woran liegt das?
Beim Nationalrat wird der Graben zwischen Bevölkerung und Politikern offensichtlich. Die Ü55-Herren pflegen ein Bild ihrer Wähler, das überhaupt nicht der Realität entspricht. Die Bevölkerung ist längst viel besser informiert als der Durchschnittsparlamentarier in Bern.
Haben Sie ein Beispiel?
Der Grundtenor bei der SVP und CVP lautet: Man kann Cannabis nicht regulieren, weil es nicht harmlos ist. Das ist genau falsch herum gedacht: Eben weil Cannabis nicht harmlos ist, muss man es regulieren.
Die Drogenexperten von SVP und CVP wollen eine drogenfreie Gesellschaft. Woher kommt diese Vorstellung?
Ich vermute, es hängt mit der schwindenden Religiosität der Gesellschaft zusammen. Die Kirche ist out, dafür werden jetzt Themen wie Essen, Gesundheit, Lebensstil mit dieser neoreligiösen Bedeutung aufgeladen. Klar, dass es da auch eine Radikalisierung geben kann. Während religiös Verblendete Krieg führen in Syrien, überfallen Tierschützer hierzulande Transporte von Schlachttieren.
Das müssen Sie jetzt ein bisschen genauer erklären.
Mit dem Wegfall der Religion müssen eben auch die Missionare andere Tätigkeiten suchen. Zum Beispiel die Gesundheitsoptimierung. Die Toleranz gegenüber Genussmenschen ist auf einem Allzeittief.
Der Genuss ist politisch?
Hochpolitisch. Ich engagiere mich stark für die Wiederherstellung der freiwilligen Solidarität, die dem Einzelnen ein genussvolles Leben erlaubt. Ganz im Gegensatz dazu hat man leider im urbanen Milieu, in den städtischen Zentren ein Schweizer Ballenberg geschaffen, wo es ruhig und bedächtig sein sollte. Tatsächlich ist das dann so ein seichtes Leben in einem vorgezogenen Sanatorium. In einzelnen Städten mag das mehrheitsfähig sein, aber im Kern total bünzlig und intolerant.
Jetzt auch noch Ballenberg. Was hat ein Freilichtmuseum mit Cannabis zu tun?
Worauf ich hinauswill, ist, dass das vermeintlich Schöne und Urbane geprägt ist von vielen Regeln und Staatskontrollen. Ich vertraue darauf, dass die Leute gegen die Überfürsorge rebellieren und mehr Selbstverantwortung übernehmen. Auch beim Cannabis.
Was schlagen Sie vor?
Die Gesellschaft muss die Selbstverantwortung vorleben und die Politik muss den Hanf komplett aus dieser romantisierten oder diabolisierten Perspektive herausnehmen.