Jetzt liegt er also auf dem Tisch, der erste Entwurf des Kaskadenmodells. Hinter dem etwas sperrigen Begriff verbirgt sich ein Dossier voller Sprengkraft. Das Kaskadenmodell soll nämlich regeln, wie in der Schweiz künftig mit Fangewalt umgegangen wird. Und es beinhaltet, so viel vorweg, einige brisante Vorschläge. Zum Beispiel den, dass ein Klub mit einer Forfait-Niederlage bestraft werden kann, wenn es wiederholt zu schweren Ausschreitungen seiner Fans kommt.
Was neben dem Platz passiert, könnte also bald direkte Folgen haben für das, was auf dem Platz passiert. Das wäre in der vorgesehenen Form ein Novum.
In der Schweiz wird seit Jahren über Fangewalt diskutiert und gestritten, vornehmlich dann, wenn in einem oder um ein Stadion wieder einmal etwas passiert ist – und das Thema auf den Radar der Politik gerät. So war das auch im Nachgang zum 23. Oktober 2021. Damals flogen beim Zürcher Derby Pyros aus dem FCZ-Sektor in den Sektor der GC-Fans. Von heute aus betrachtet war jener Tag die Geburtsstunde des Kaskadenmodells.
Es soll nun so etwas wie der grosse Wurf werden, von Klubs und Behörden gemeinsam verabschiedet, in der ganzen Schweiz gültig. Eine Lösung für die Zukunft, die dann zum Einsatz kommt, wenn es zu schwerwiegenden Ausschreitungen kommt. Und nur dann. Vorderhand haben sich die Swiss Football League SFL und die Sicherheitsbehörden nämlich darauf geeinigt, auf präventive Ansätze zu setzen, solche, die etwa den Dialog mit den Fans pflegen sollen.
Doch wenn der Dialog nicht greift, kommt die Repression ins Spiel. Wie das genau passieren soll, zeigt der Entwurf des Kaskadenmodells nun erstmals auf. Er wurde in einem Workshop erarbeitet, an dem etwa die Klubs, die SFL, Polizei- und andere Behördenvertreter zugegen waren – die organisierte Fanszene allerdings nicht.
Nun geht dieser Entwurf in eine Art Vernehmlassung. Und er wird, so viel vorweg, einiges zu reden geben, wobei gerade das derzeit niemand will: darüber reden, was nun auf dem Tisch liegt, und die eine oder andere Frage dazu beantworten. Das gilt für die SFL, die über ihre Internet-Kanäle derzeit Fans im ganzen Land offensiv zur Teilnahme an der Vernehmlassung auffordert. Und es gilt auch für die Behörden, etwa die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren KKJPD. Von allen Seiten heisst es, dass man zuerst einmal die Vernehmlassung abwarten wolle – und sich dann später äussern werde.
Und so liegt nun dieses Modell auf dem Tisch, das in seinen Grundzügen wie folgt funktioniert: Ausgelöst werden die Kaskaden, sobald es zu Ausschreitungen von Fangruppierungen kommt. Entsprechende Vorfälle sollen von den Klubs oder den lokalen Behörden an ein Fachgremium der Fussballliga gemeldet werden. Diese prüft den Fall. Danach entscheiden SFL und Behörden, ob Massnahmen nötig sind.
Das Kaskadenmodell umfasst fünf Stufen, wobei gewisse Vorfälle automatisch gewisse Massnahmen auslösen. So führt Stufe 1 («gravierende Sachbeschädigungen») zu einer obligatorischen Lagebesprechung von Polizei, Klub und Fans vor den nächsten drei Spielen. Wenn Personen verletzt werden (Stufe 3), wird die Fankurve des fehlbaren Klubs für mindestens ein Spiel geschlossen. Gleichzeitig muss der Ticketverkauf sofort gestoppt werden, damit die Fans nicht auf andere Sektoren ausweichen können.
Wichtig sind dabei die sogenannten Bewährungsphasen. Wenn es zu Zwischenfällen gekommen ist, stehen die betroffenen Fans in den nächsten Spielen unter verstärkter Beobachtung. Wenn etwa Personen verletzt werden, gilt diese Phase fünf Spiele lang. Wenn es in dieser Zeit erneut zu Ausschreitungen mit Verletzten kommt, wird ein Geisterspiel verhängt, also das ganze Stadion gesperrt. Und wenn dies dann innerhalb der nächsten fünf Spiele erneut passiert, ist Stufe 5 erreicht, heisst: Die Bewilligungsbehörden erlauben die Durchführung des nächsten Spiels nicht. Dieses kann nicht stattfinden. Der betroffene Klub verliert Forfait.
Noch ist da alles nicht in Stein gemeisselt, darum die Vernehmlassung – und eben: Der Entwurf wird noch einiges zu reden geben. Kollektivstrafen sind etwa bei Fans, Klubs und Wissenschaft verpönt, im Entwurf aber gleich reihenweise vorgesehen, Stichworte gesperrte Kurven oder gar Stadien.
Die Gefahr, Forfait zu verlieren, wird den Klubs erst recht missfallen. Das gab es in der Vergangenheit vereinzelt – zuletzt in der Saison 2018/19, als GC-Fans in Luzern randalierten –, wenn Fans sich während eines Spiels etwas zuschulden kommen liessen und dieses abgebrochen werden musste. Doch dass ein Spiel erst gar nicht angepfiffen wird, wäre ein absolutes Novum.
Dazu kommen reihenweise offene Fragen, etwa, was es mit dem Verbot koordinierter Fanaktionen (Stufe 3) auf sich hat. Oder wie eine Gesichtserkennung aller eingelassenen Fans (Stufe 2) in der Praxis umgesetzt werden soll. Und generell: wann eine Sachbeschädigung «gravierend» ist und wann «besonders gravierend». Und so weiter.
Am Anfang von allem stand einst das Zürcher Derby am 23. Oktober 2021. Danach nahmen die Dinge ihren Lauf, wobei die kantonale Konferenz der Sicherheitsdirektoren KKJPD zuerst lautstark nach personalisierten Tickets rief. Deren Einführung ist vorläufig in den Hintergrund gerückt, weil etwa noch rechtliche Fragen geklärt werden müssen.
Das Kaskadenmodell seinerseits soll Anfang des nächsten Jahres definitiv vorliegen und dann auf die Saison 2024/25 eingeführt werden. Gut möglich, dass es dann ein wenig anders aussieht als heute. (aargauerzeitung.ch)