Trotz Annahme der Masseneinwanderungsinitiative wanderten in den ersten sechs Monaten dieses Jahres unter dem Strich 37'147 Menschen in die Schweiz ein. Nur im Rekordjahr 2013 war die Zuwanderung höher.
CVP-Bundesrätin Doris Leuthard macht dafür in erster Linie die Unternehmen verantwortlich: «Ich bin von der Wirtschaft enttäuscht», sagte Leuthard vor wenigen Wochen in einem Interview mit dem «SonntagsBlick».
Sie sehe noch immer keine Massnahmen zur Drosselung der Zuwanderung, die zeigen würden, dass die Wirtschaft den Volksentscheid vom 9. Februar ernst nehme.
Johann Schneider-Ammann nimmt die Unternehmer derweil in Schutz: «Die Wirtschaft hat spätestens nach dem Ja zur Zuwanderungsinitiative verstanden, dass etwas gehen muss», sagte der FDP-Bundesrat am Dienstag.
Die Bundesräte sind sich also nicht einig, ob die Wirtschaft seit Annahme der Masseneinwanderungsinitiative genug tut, um das Fachkräftepotenzial im Inland besser zu nutzen. Bei den Parlamentariern gehen die Meinungen erst recht auseinander.
Um sich ein eigenes Bild zu machen, fragte die «Aargauer Zeitung» bei den grössten Arbeitgebern der Schweiz nach, ob sie seit Annahme der Masseneinwanderungsinitiative Massnahmen ergriffen haben, die helfen sollen, das Fachkräftepotenzial im Inland besser zu nutzen.
Das Ergebnis ist ernüchternd: Keiner der angefragten Grosskonzerne hat aufgrund des Abstimmungsergebnis Änderungen bei der Personalrekrutierung vorgenommen.
Und etwas Neues aufgegleist wurde lediglich bei der Credit Suisse: Diese startet im ersten Quartal 2015 die Initiative «Real Returns», die talentierten Frauen, die aufgrund familiärer Verpflichtungen den Beruf in den Hintergrund gestellt haben, die Wiedereingliederung in die Wirtschaft erleichtern soll.
Die meisten der grossen Arbeitgeber gehen dagegen nicht einmal konkret auf die Fragen der «Aargauer Zeitung» ein. Stattdessen erklären die Grosskonzerne von ABB bis Zurich, dass sie seit jeher sehr viel tun würden, um möglichst viele Fachkräfte im Inland zu finden.
Was folgt sind umfassende Beschreibungen der jeweiligen Rekrutierungsinstrumente: Die Auflistungen reichen von der Anzahl Ausbildungsplätze über Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten nach der Lehre, über familienfreundliche Arbeitszeitmodelle bis hin zu flexiblen Pensionierungslösungen.
Teilweise kommen dabei fortschrittliche Konzepte zutage: Bei ABB zum Beispiel besteht die Möglichkeit, über das Rentenalter hinaus zu arbeiten.
Novartis spricht mit dem Programm «Prime Force» ebenfalls gezielt ältere Mitarbeitende an, um ihr Fachwissen über das reguläre Pensionsalter hinaus in der Firma zu behalten.
Zudem unterstützt der Basler Pharmariese in einer Kooperation mit der Universität St. Gallen das Projekt «Woman Back to Business», das Frauen adressiert, die wieder in den Beruf einsteigen möchten.
Doch alle diese gut gemeinten Massnahmen haben das gleiche Problem: Sie bestehen schon seit langem und konnten die Zuwanderung der letzten Jahre nicht eindämmen – was schliesslich die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative zur Folge hatte.
Es ist also eine Tatsache, dass die Grosskonzerne seit dem Ja am 9. Februar untätig geblieben sind. Aus den umfangreichen Antworten ist herauszulesen, dass die meisten darauf hoffen, sich auch in Zukunft ohne grosse Einschränkungen auf dem europäischen Arbeitsmarkt bedienen zu können.
So schreibt etwa Nestlé: «Als multinationales Unternehmen sind wir darauf angewiesen, international rekrutieren zu können.»
Schwierig einzuschätzen ist, ob die Grosskonzerne tatsächlich bereits seit Jahren alles in ihrer Macht stehende tun, um den Schweizer Arbeitsmarkt voll auszuschöpfen.
Von aussen betrachtet, bleibt auf jeden Fall der Eindruck, dass sie sich bei Zuwanderungsfragen auf folgende Taktik geeinigt haben: Nichts sehen, nichts hören und nichts sagen.
Mildernd ist zu sagen, dass sich mittlerweile zumindest die Wirtschaftsverbände tatkräftig um Lösungen bemühen.
So schreibt der Arbeitgeberverband auf Anfrage: «Wir wollen unseren Beitrag dafür leisten, dass vermehrt inländische Arbeitskräfte wieder ins Erwerbsleben einsteigen können oder dort verbleiben.»
Einfach sei das aber nicht: Viele Frauen möchten kein 100- oder 80-Prozent-Pensum. Und viele ältere Personen hätten sich dagegen entschieden, bis 65 Jahre oder älter zu arbeiten.
«Unsere Bemühungen können deshalb nicht in wenigen Wochen und Monaten die Erwerbsquote erhöhen», so der Arbeitgeberverband.