Vorgeführt worden? Immerhin haben die ZSC Lions nach Penaltys noch 2:1 gewonnen. Aber der Punktverlust könnte fatale Folgen haben und den Meister die Playoffs kosten. Ja, die Zürcher sind vorgeführt worden. Die teuerste Mannschaft der Liga, veredelt mit meisterlichen Stars, WM-Silberhelden und Nationalspielern, gecoacht vom charismatischsten Schweizer Klubtrainer seit Bibi Torriani ist auf eigenem Eis mit 43:18 Torschüssen dominiert und im Schlussdrittel tatsächlich vorgeführt worden (15:5 Torschüsse). Es handelt sich hierbei um die offizielle Liga-Statistik.
Wie ist das möglich? Nun, im grossen Zürcher Hockey-Theater ist wieder einmal ein pädagogisches Lehrstück aufgeführt worden. Autoritäre Oberaufsicht und Ordnung behaupteten sich gegen antiautoritäre Führung und Chaos.
Das Lehrstück geht so: Die SCL Tigers werden seit dem 3. Oktober 2016 vom grossen, bisweilen grantigen taktischen Hexenmeister Heinz Ehlers nach alter Väter Sitte autoritär kommandiert und hockeytechnisch gebürstet und gekämmt. Fleissig lässt er Spielzüge einüben, unerbittlich korrigiert er Fehler und inzwischen sind die SCL Tigers eines der bestorganisierten und taktisch schlausten Teams der Liga geworden. Niemand denkt auch nur daran, die Autorität des Trainers anzuzweifeln. Heinz Ehlers ist Gospel.
Die ZSC Lions werden auch von einem grossen Trainer geführt. Vom charismatischen sechsfachen Meistercoach Arno Del Curto, der im Hallenstadion die Popularität eines Popstars geniesst. Aber er ist erst im Januar nach Zürich gekommen. Während Heinz Ehlers Amtsdauer in Langnau haben die Zürcher mit Arno Del Curto nach Hans Wallson, Hans Kossmann und Serge Aubin bereits den vierten Chef in Lohn und Brot.
Bei den ZSC Lions ist es inzwischen in der Sportabteilung Brauch geworden, die Obrigkeit – den Trainer also – ständig in Frage zu stellen. Im pädagogischen Sinne werden die ZSC Lions antiautoritär trainiert und geschult. Während des «Schulalltags» der Qualifikation macht so ziemlicher jeder, was er will. Arno Del Curto ist nicht Gospel. Er ist Kumpel.
Das Problem ist keineswegs Faulheit oder Feigheit der Spieler. Mit einer solchen Einschätzung würden wir ihnen in allerhöchstem Masse Unrecht tun. Sie möchten schon, sie sind konditionell gut und sie sind mutig. Aber sie sind zutiefst verunsichert. Sie können sich unter Druck und in hektischen Situationen nicht an einem System, an eingeübten Automatismen «festhalten». Jedes Missgeschick – und solche gibt es in einem unberechenbaren Spiel auf glatter Unterlage halt immer wieder – bringt sie aus dem Tritt. Es ist das Resultat einer Meisterlosigkeit, die in einer so hochprofessionellen Eishockey-Firma mit klaren Hierarchien und Organigrammen im Laufe der letzten zwei Jahre ein schier unfassbares Ausmass angenommen hat.
Es ist halt schon eine verzwickte Situation: trotz miserablem «Lernverhalten» und taktischem Larifari-Betrieb zwischen September und März ist es letzte Saison gelungen, die Meisterschaft zugewinnen.
Es genügte, sich während ein paar Wochen im März und April zusammenzureissen. Was soll da ein Trainer machen, sagen, befehlen, üben? Die Spieler denken tief in ihrer Hockeyseele nicht ganz zu Unrecht, sie wüssten schon, wie es geht. Fluch und Segen eines antiautoritären Experiments mit ständig wechselnden Trainern.
Bei dieser jüngsten Hockey-Theateraufführung ist noch etwas aufgefallen: Die Langnauer, die auf jeden Franken achten müssen, haben die besseren ausländischen Arbeitskräfte als die Zürcher, die mit einem nach oben offenen Transferbudget operieren.
Der charismatische Leitwolf Chris DiDomenico erzielte in dieser Partie mehr Wirkung als die vier ausländischen Profis der ZSC Lions zusammen. Der Dynamo des Spiels der Langnauer hat ein gewaltiges Arbeitspensum absolviert. Der Kanadier ist lange Wege gelaufen, er holte schliesslich die Strafe im Schlussdrittel heraus, die er zum Ausgleich verwerten half. Und er traf auch im Penaltyschiessen.
Der gewonnene Punkt ist Gold wert: Gewinnen die Emmentaler am Freitag in Rapperswil-Jona, dann sind sie im Falle einer Niederlage der ZSC Lions in Bern oder Gottéron gegen Servette durch und zum zweiten Mal nach 2011 in den Playoffs der höchsten Liga.
Dass die Zürcher wenigstens im Penaltyschiessen triumphierten, hat auch seine Logik. Im einsamen Duell Stürmer gegen Torhüter ist mit straffer Führung, System, Disziplin, Wille und taktischer Schlauheit nichts mehr zu machen. Das Mannschaftspiel ist aufgelöst. Es ist die Stunde der spielerischen Freigeister, Künstler und Zocker. Reine Solonummern. Und da siegt sehr oft das pure Talent.
Für die ZSC Lions ist nach wie vor alles möglich. Aber sie haben ihre Lage durch den verlorenen Punkt verschärft. Immer mehr zeigt sich: Der Trainerwechsel hat bisher erst politische, aber noch keine sportliche Wirkung gezeigt. Unter Serge Aubin wurden alle Mängel dem Trainer zugeschrieben und als Argumente für seine Entlassung verwendet. Hingegen sind alle Erfolge dem Mut, dem Talent und der Leidenschaft der Spieler zugeschrieben worden. Und Erfolge hat es durchaus gegeben: Gegen die Lakers haben die Zürcher beispielsweise unter Serge Aubin nie verloren.
Gleicher Meinung wie #MySportsCH -Experte Sven Helfenstein? Mal "Krise total", mal ganz stark - immerhin gewinnen die @zsclions im Shootout! #HomeofSports #MyHockey #NationalLeague pic.twitter.com/uCa0isVQlw
— MySportsCH (@MySports_CH) 26. Februar 2019
Nun ist es unter Arno Del Curto umgekehrt: Jetzt werden alle noch so kleinen guten Dinge dem Einfluss, dem Mut und der Leidenschaft des Trainers zugeschrieben. Und das Versagen – wie die Niederlage gegen die Lakers – höheren Umständen wie Nervenbelastung, Glück und Pech oder halt dem Unvermögen der Spieler.
Aber wir sollten die ZSC Lions noch nicht zu arg schmähen oder abschreiben. Diese Mannschaft hat letzte Saison unter ganz ähnlichen Umständen und nominell weniger gut besetzt die Meisterschaft gewonnen. Es gibt also auch einen antiautoritären Weg zu den Gipfeln des Erfolgs. So, wie in den berühmten Schulen von Rudolf Steiner (mit dem ehemaligen Hockeyprofi Daniel Steiner nicht verwandt), dem Philosophen, der sich einst gegen jede vorgegebene Wahrheit und Autorität aufgelehnt hatte.
Rudolf Steiner hat allerdings nie eine Fussball- oder Eishockeymannschaft trainiert.