Der regnerische 27. April 2019 ist ein grosser Tag für die Stadt Bern. Sie feiert ihre sportlichen Helden. Genau eine Woche, nachdem der SCB am 20. April mit einem 2:1 im 5. Finalspiel gegen Zug den Titel geholt hat.
Keine andere Stadt im Land versteht es so gut, seinen Meister zu feiern. Der Triumphzug beginnt unten beim Bärengraben und führt durch die Altstadt auf den Bundesplatz. Gut 20'000 sind trotz Regenwetter gekommen, um dem Meister die Referenz zu erweisen.
Die für ihre Nüchternheit und Sachlichkeit berühmte, ja legendäre Nachrichtenagentur SDA mit Sitz in Bern hat den Triumphzug so geschildert:
Im Frühjahr 1798 sind die Franzosen über die Nydeggbrücke in die Stadt eingefallen. Sie beendeten die ruhmreiche Geschichte des alten Bern, das «Ancien Régime». Zum ersten Mal überhaupt betraten fremde Krieger die stolze Stadt. Bern war damals eine der reichsten Stadtstaaten Europas. Als die Franzosen den Staatsschatz auf einem Wagen rumpelnd über die Nydeggbrücke abtransportierten, sei ob dem Gewicht eine Achse gebrochen. So geht die Legende. Frankreich hat den Bernern das geraubte Geld und Gold bis heute nicht zurückerstattet. Aber das nur nebenbei.
Dass die meisterlichen SCB-Helden auf dem gleichen Weg wie einst die französischen Soldaten im Triumph in die Stadt einziehen – daran hat an diesem 27. April wohl niemand mehr gedacht. Dass dieser meisterliche Triumphzug schon den Keim des Scheiterns, des Untergangs in sich trägt, kann niemand wissen. Und noch weniger ahnen die Männer, Frauen und Kinder, die am Strassenrand und auf dem Bundesplatz im Regen ausharren und feiern, dass dieser 27. April bereits der letzte glückliche Tag in der SCB-Geschichte war.
Dass Leonardo Genoni bei der Meisterfeier zum letzten Mal für den SCB auftritt, wissen alle. Er hat ja schon vor Monaten beim EV Zug unterschrieben. Aber dass nur ein Jahr später der grosse «Bandengeneral» Kari Jalonen und Sportchef Alex Chatelain nicht mehr im Amt sein werden und der SCB nicht einmal mehr gut genug sein wird, um die Playoffs zu erreichen – das kann niemand, wirklich niemand, erahnen. Und ausserhalb jeder Vorstellungskraft ist an diesem verregneten Samstag, dass der SCB diesen Titel eine weitere Saison wird behalten können. Weil es übers Jahr im April 2020 überhaupt keine Playoffs, keinen Fussball, keinen Sport, ja nicht einmal mehr einen Beizen- und Kinobesuch mehr geben wird.
Aber so ist es gekommen. Der 27. April 2019 – der letzte glückliche Tag in der SCB-Geschichte? «Ja, das kann man so sehen» sagt SCB-Manager und Mitbesitzer Marc Lüthi nachdenklich. «Aber wir hatten danach in der Champions League doch noch einige grosse Momente. Wir sind in einer starken Gruppe weitergekommen. Das ist keineswegs selbstverständlich.» Siege in der Champions League in einem nicht einmal halbvollen Tempel sollen ein Ersatz für meisterliche Gefühle sein? Das muss er als Präsident der Vereinigung der europäischen Proficlubs wohl so sagen.
Hochmut kommt vor dem Fall. Wer jetzt im Zusammenhang mit Marc Lüthi und «seinem» SCB so denkt, ist ein Schuft und billiger Polemiker. Wenn einer um die Zerbrechlichkeit des SCB-Glücks weiss, dann Marc Lüthi. Er hat aus nächster Nähe miterlebt, wie der SCB nur ein Jahr nach dem Titelgewinn von 1997 zum Sanierungsfall wird und erst in einer Nachlassstundung vor dem Untergang bewahrt werden kann. Er ist damals Mitinhaber einer Werbe-Agentur, die beim SCB noch rund 150'000 Franken zugute hat. Daraus resultiert ein Deal, der das gesamte Schweizer Eishockey verändern wird: auf die Forderung wird verzichtet, und dafür erhält Marc Lüthi im Gegenzug den Posten als SCB-Manager. Er hat aus dem SCB das wirtschaftlich erfolgreichste Sportunternehmen im Land gemacht, das heute fast 60 Millionen im Jahr umsetzt und in diesem Jahrhundert immer schwarze Zahlen geschrieben hat.
Wenn Marc Lüthi sich bei den zahlreichen Meisterumzügen («sein» SCB hat die Titel 2004, 2010, 2013, 2016, 2017 und 2019 gewonnen) nie an vorderster Front feiern lässt und bescheiden im Hintergrund bleibt, so dürfte dies den Erinnerungen an die schwierigen Zeiten geschuldet sein. Sie halten ihn davon ab, die Bodenhaftung zu verlieren. Er mag das zwar so nicht bestätigen und sagt bescheiden: «Ich muss mich doch bei einem solchen Anlass um die Organisation kümmern.» Aber es wird eben doch so sein, dass ihn die SCB-Historie Demut gelehrt hat.
Aber das Beispiel SC Bern zeigt eben auch, wie sich unverhofft neue Chancen bieten. Florence Schelling weiss nicht mehr genau, was sie am 27. April 2019 gemacht hat. Sie musste nach ihrem Skiunfall eine Halskrause tragen. Sie sei mehr oder weniger bettlägerig gewesen. Es sei an diesem 27. April nichts Besonderes vorgefallen, an das sie sich erinnern könne.
Und jetzt, ein Jahr später, ist Florence Schelling Sportchefin beim SC Bern. Das dürfte für sie vor einem Jahr so verrückt und unvorstellbar gewesen sein wie ein Heiratsantrag von Boris Becker. Und für Alex Chatelain wohl auch.
Wenn wir kurz innehalten und daran denken, was beim SCB vor einem Jahr am 27. April 2019 war und was heute ist, dann sehen wir, wie zerbrechlich nicht nur das sportliche Glück sein kann. Sondern die ganze Welt.
Sollte Boris Becker dem Alex Chatelain mal einen Heiratsantrag machen, müsste Watson unbedingt davon berichten. Obwohl dies vermutlich weder die Eishockey- noch die Tenniswelt nachhaltig verändern würde.
Die Nydeggbrücke wurde trotzdem erst 1844 eröffnet (Bauzeit 1840-1844). Wahrscheinlich meinen Sie die Untertorbrücke.