Wir stecken in der Bredouille. Viele von uns müssen wieder zur Arbeit. Benutzen wir dafür den ÖV, kriegt uns das Virus. Benutzen wir dafür tonnenschwere Autos, kriegt uns der Klimawandel. Velo und Homeoffice funktionieren nicht für alle. Es braucht Alternativen.
Ein Gefährt, das diese Ansprüche möglicherweise erfüllt, kommt aus Schweden. Es heisst «Kalk» und ist ... ein Elektrotöff. Ursprünglich für ein umweltverträgliches Offroad-Vergnügen konzipiert, gibt es mit der «Kalk&» nun auch eine auf Schweizer Strassen zugelassene Version.
Wir haben sie getestet. Taugt das Ding im Pendlerverkehr? Und macht es Spass? So richtig Spass?
Als ich im Ressortchat ankündigte, einen Elektrotöff zu testen, war der Tenor eindeutig. Es folgen Auszüge aus dem Ressort-Chat:
Zu den kritischen Stimmen von Anna und Dani gesellte sich alsbald auch Simone Meier. Damit ist klar: eine Cougar-Falle ist die Kalk& nicht. Dafür ist sie zu wenig klassisch, zu stelzbeinig, zu sehr Swedish-House-Mafia-Töff.
Ist doch so. Die Kalk wäre das ideale Gadget in einem Ingrosso-Video. Und deshalb testen wir ihre Wirkung in der Schweizer Hochburg des Nznznz-Sounds, im Reich der weissen Turnschuhe, in direkter Nachbarschaft des ehemaligen Kult-Clubs Oxa. Kann die Kalk& an einem kalten, regnerischen Tag in Schwamendingen punkten?
Ja, sie kann. In Schwamendingen drehen sich die Köpfe nach der Kalk, wie die Potis auf dem Mischpult. Hier stört man sich anscheinend weniger an den töffuntypischen Farben und am modernen Design. Die Kalk fällt auf. Und an der Ampel werde ich aus 3er-BWMs und AMGs angesprochen. Einer fragt: «Wasischdaseh?» Ein anderer findet: «Uerrregeil.»
«Uerrregeil» finden die Kalk auch diverse Designjurys. Unter anderem gewann sie 2018 den schwedischen, 2019 den deutschen und 2020 den finnischen Designpreis.
Elektromotorradfahren ist nicht Verbrennermotorradfahren. Das sind zwei komplett verschiedene Sportarten. Was ist anders? Sound, Kupplung, Beschleunigung, Bremsen, Fahrgefühl. Ziemlich viel also. Und es beginnt mit dem Anlasser.
Statt eines satten Motorengeräuschs ertönt ... nichts. Stattdessen dürfen wir zusehen, wie auf dem Screen (in unserer Version noch ein Provisorium) das System hochfährt. Danach erinnert in regelmässigen Abständen ein sanftes Gonggeräusch, dass die Maschine jetzt fahrbereit ist. Das ist nötig, denn wer jetzt aus Spass am Gasgriff dreht, fliegt. Leerlauf gibt es nicht. Es gibt überhaupt keine Gänge. Und dementsprechend bleibt der linke Fuss arbeitslos. Auch die linke Hand übernimmt (ausser Blinker stellen) wenig Verantwortung. Einseitige Sache das.
Auf dem Display kann der Fahrer Brems- und Beschleunigungsstufe einstellen. Je drei stehen zur Verfügung. Bei der Bremse? Stufen? Die Kalk& verfügt über Rekuperationstechnologie. Damit kann per Motorbremse Energie und damit Fahrkilometer zurückgewonnen werden. Die Bremswirkung, die in der dritten Stufe erzielt wird, ist eindrücklich. Wer einigermassen vorausschauend fährt, benötigt im Stadtverkehr die «normalen» Bremsen nur noch im Notfall. Diese befinden sich beide, wie gewohnt, auf der rechten Seite. Das Pedal der Hinterradbremse am rechten Fuss ist allerdings derart klein, dass man es leicht verfehlt. Ist jetzt aber auch kein Drama.
Stufe eins ist ein bisschen zahnlos, Stufe zwei interessant, so richtig aufregend ist aber die dritte Stufe. Man bedenke, dass es sich bei der Kalk& um ein nicht einmal 80 Kilogramm schweres Gefährt mit über 250 Newtonmeter Drehmoment handelt. Eine 125er-Yamaha DT ist über 40 Kilogramm schwerer.
Nach einer kurzen Bedenkzeit zieht die Kalk gnadenlos. Zwischen 5 und 50 Stundenkilometern ist das Federgewicht ein richtiges Biest. Und es verzeiht nichts. Das Spiel mit der Kupplung fällt komplett weg. Der Elektroantrieb ist ultradirekt. Bereits eine kleine Bewegung am Gashebel sorgt für lange Arme.
Das macht natürlich enorm Laune, auch wenn das für Neulenker gewisse Gefahren birgt. Ein kleines Schlagloch auf der Strasse, ein kleiner Rüttler am Gashebel – was von einem Verbrenner ignoriert wird, wird von der Kalk prompt und heftig umgesetzt. Klassische Motorradfahrer müssen trotz sehr gutem Handling umlernen. Das geht aber schnell. Ruhiges Cruizen ist nicht so die Stärke der Kalk&.
Apropos Cruizen. Bei 65 km/h vergisst die Kalk& ihren Angriffswillen und beschleunigt deutlich braver. Wer mit 80 km/h übers Land heizt, leert die Batterie (2,6 kwh) allerdings bereits nach 30 Kilometern. Auf dem Grad zwischen umweltfreundlich (möglichst kleine Batterie) und pendlertauglich (Reichweite mit Toleranz) neigt sich die Kalk& ganz gehörig auf die Umwelt-Seite. Das wird einige potentielle Kunden abschrecken – ich hatte jedoch nie Reichweitenprobleme und vor allem auch keine Reichweitenangst.
Unser Chefredaktor Maurice Thiriet glaubt, ein Motorrad muss ordentlich Krach machen. Das ist natürlich Altherrendenken und man trifft es öfters bei Trägern von graumelierten Fu-Manchu-Bärten, zu engen Jeans und Camp-David-Poloshirts – Männern, die sich mit dem Ersparten, oder was nach der Scheidung davon übrig blieb, mit Ach und Krach eine Harley leisten konnten.
Aber Männer mit Fu-Manchu-Bärten und einer Harley sind nicht gerade Posterboys der Neuausrichtung. Lange Rede, kurzer Sinn: Der Sound der Kalk& ist ein bisschen Kacke.
Damit wären wir beim (fast) einzigen Negativpunkt dieses wunderbaren Maschinchens. Der Sound besteht aus zwei Stimmen: einem angenehmen Star-Trek-mässigen «Schwww» und einem eher unschönen «Chxchxchx». Je höher die Geschwindigkeit, desto deutlicher nimmt das «Chxchxchx» überhand. 80 km/h hören sich unter dem Helm an, wie das Kiefermahlen eines Elchs auf Speed. Das ist zu Beginn irritierend. Erstaunlicherweise gewöhnt man sich nach einer Weile daran.
Der eigenwillige Sound kann den Fahrspass aber nicht vergraulen. Zu fröhlich beschleunigt die Schwedin, zu agil lässt sie sich in die Kurven drücken. Wer unter dem Helm nicht dauergrinst, soll Zamboni fahren. Vielleicht passt da der Untersatz besser zur Gefühlskälte.
Natürlich ist die Stadt nicht das angestammte Territorium der Kalk&. Aber sie kann die Stadt eben auch. Die Sitzhöhe von beachtlichen 910 Millimetern gibt zwischen Lastwagen und Goldküstenpanzern eine gewisse Übersicht und Sicherheit. Und plötzlich weiss man auch das Chxchxchx zu schätzen, das im Strassenlärm doch für eine gewisse Präsenz sorgt.
Eine Woche fuhr ich jeden Tag mit der Kalk& zur Arbeit. Und je näher die Abgabefrist kam, desto grösser wurden die Umwege, die ich jeden Morgen fuhr. Ja, für mich als Stadtrandbewohner ist die Kalk& das ideale Gerät, um zum watson-Hauptquartier an der Hardbrücke zu gelangen: umweltfreundlich, platzsparend, ressourcensparend – und trotzdem fun. Richtig fun. Morgens um 5:45 Uhr (fragt nicht, Coronavirus ist kacke) bei noch abgeschalteten Ampeln um den Bucheggplatz wetzen, sorgt für Gänsehaut. Mehr als einmal legte ich eine Zusatzrunde ein.
Aber!
14'000 Dollar (13'600 Franken) kostet die Kalk& vor Zoll und Kontrolle. Für Schweizer Käufer kommen also noch mindestens ein paar Hunderter dazu. Das ist mir zu viel. In Oerlikon brauch ich keine goldschimmernden Öhlins. Das ist overkill.
Die Kalk& ist deshalb nicht das neue Pendler-Wundermittel. Aber sie ist eine Alternative für hippe Ärzte und Ärztinnen, systemrelevante Grössen, die sich den Keimen im ÖV nicht aussetzen wollen und trotzdem mit Stil und Spass zum Arbeitsplatz gelangen wollen (und dafür nicht auf die Autobahn müssen). DesignerInnen, WerberInnen, DJs und StartuperInnen und Kreative sehe ich auf einer Kalk&. Es wird keine Massenbewegung sein. Aber eine Bewegung mit Attitüde. Den Mittvierziger aus Oerlikon mit zwei Kindern und einem Trampolin im Garten sehe ich aber eher weniger auf der Kalk&.
ABER!
Den Mittvierziger aus Oerlikon sehe ich auf einer Kalk Ink SL.
Die Kalk INK SL (Street Legal) basiert auf der Kalk – den grössten Unterschied macht neben der Grundfarbe die Tauchgabel. Sie ist nicht mehr von Öhlins, dafür etwas härter. Das macht sich beim Preis bemerkbar. 10'400 Euro (11'040 Franken) kostet die INK SL. Das ist immer noch happig und ein Preis, den man nicht einfach so aus der Portokasse bezahlt. Aber er liegt im Bereich des Möglichen. Die Vespa Elettrica kostet auch über 7000 Franken.
Und vielleicht verringert sich der Preis der Kalk Ink SL ja noch – wenigstens relativ. Denn wenn wir schon von der Zukunft sprechen: Einen halben Bitcoin würde ich für die INK SL wohl springen lassen. Dafür müsste sich der Wert der Kryptowährung verdoppeln. Das tönt nach langem Weg – muss es aber nicht sein. On verra.
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