Der 22. Juli 2011 hat Norwegen verändert. Und er hat die Überlebenden des schlimmsten Gemetzels verändert, das in diesem augenscheinlich so friedlichen Land seit dem Zweiten Weltkrieg verübt worden war. An diesem Tag tötete der rechtsextreme Terrorist Anders Breivik 77 Menschen – die meisten von ihnen Teilnehmer an einem Sommercamp der sozialdemokratischen Jugendorganisation AUF auf der Insel Utøya.
Breivik kam als Polizist verkleidet nach Utøya, nachdem er im Regierungsviertel von Oslo eine Autobombe gezündet hatte, die acht Menschen tötete. Auf der kleinen Insel machte er gezielt Jagd auf seine Opfer, die sich zu verstecken oder wegzuschwimmen versuchten. Nie rannte er, wie Zeugen später berichteten. Ohne Hast erschoss er Verletzte, die sich totstellten. Fast anderthalb Stunden dauerte das Massaker.
Etwa 560 Menschen befanden sich auf Utøya, als Breivik zu seiner Mordserie ansetzte. Viele von ihnen überlebten, weil sie in den Fjord flüchteten und aus dem Wasser gezogen wurden, andere konnten sich in einem Gebäude verbarrikadieren, wieder andere konnten sich in Höhlen auf der felsigen Westseite der Insel verstecken. Alle mussten um ihr Leben fürchten; viele mussten zusehen, wie ihre Freunde getötet wurden.
Manche der Verletzten verloren einen Körperteil oder tragen heute noch sichtbare Narben. Seelische Narben tragen vermutlich alle Überlebenden. Tief verborgen vielleicht, wie Kamzy Gunaratnam, die damals 23 Jahre alt war und zum Leitungsteam des Sommercamps gehörte. Sie sprang ins Wasser und wurde von einem Boot aufgenommen. Heute ist sie Vizebürgermeisterin von Oslo und hat gute Chancen, bei den nächsten Wahlen ins norwegische Parlament einzuziehen.
Dem «Spiegel» erzählt sie zehn Jahre nach dem Blutbad, wie sie reagierte, als sie kürzlich einen Brief von Breivik aus dem Gefängnis erhielt: «Es fühlte sich an, als würde das ganze Rathaus unter meinen Füssen schwanken.» Ihr sei übel geworden, es habe ihr den Atem abgeschnürt. Gunaratnam berichtet auch, ihr Körper habe die Fluchterfahrung gespeichert.
In den Wochen nach Breiviks Brief habe sich das verstärkt und jedes laute Geräusch habe sie auffahren lassen. Sie habe sich dann immer gefragt, ob es Schüsse seien, die sie höre.
Gunaratnam dürfte nicht die einzige Überlebende sein, die diesen Fluchtreflex verinnerlicht hat. Solche Prägungen sind auch von anderen Opfern bekannt, die Kriegs- oder Terrorsituationen überlebt haben. In der Psychologie ist die Rede von einem «erhöhten Bedrohungsmonitoring» – man beobachtet etwa in bestimmten Situationen Leute und fragt sich, ob sie eine Gefahr darstellen.
Eine andere psychologische Folge des erlebten Schreckens kann das sogenannte Überlebensschuld-Syndrom sein, das auch als Holocaust-Syndrom bekannt ist. Letztere Bezeichnung verweist auf den Ursprung des Begriffs, der bei Überlebenden von Konzentrationslagern erstmals verwendet wurde und das Schuldgefühl beschreibt, das Personen befallen kann, die ein extremes Ereignis wie einen Amoklauf oder einen Genozid überlebt haben, während viele andere dabei umgekommen sind. Dabei spielt auch der Umstand eine wichtige Rolle, dass die Überlebenden den Getöteten nicht helfen konnten.
Schuldgefühle sind Miriam Einangshaug nicht fremd. Sie war 16 Jahre alt, in diesem Sommer vor zehn Jahren; sie hatte Glück und konnte sich mit anderen Jugendlichen in einem Gebäude mit Schlafsälen verbarrikadieren. Eine Kugel, die Breivik hineinfeuerte, verfehlte sie nur knapp. «Als der erste Schuss auf Utøya gefallen ist, habe ich meine Kindheit verloren», sagt sie heute in einer Video-Reportage des «Spiegels».
In den ersten Monaten nach dem Anschlag hatte sie oft mit Flashbacks und Angstzuständen zu kämpfen, machte eine Therapie. Noch immer leidet sie unter Konzentrationsschwierigkeiten, aber heute findet sie, sie komme klar mit ihrem Leben. Aber sie sagt auch, sie habe sich jahrelang schuldig gefühlt, weil sie überlebt hatte.
Von diesem Gefühl der Überlebensschuld erzählt auch Eskil Pedersen, der 2011 Vorsitzender der sozialdemokratischen Jugendorganisation AUF war, die das Sommercamp auf Utøya organisierte. Pedersen, damals 27, gilt als eines der Hauptziele, auf die Breivik es abgesehen hatte, doch ihm gelang die Flucht. Zusammen mit sieben anderen Personen konnte er die Insel auf einer Fähre verlassen. Dafür wurde er später harsch kritisiert; man warf ihm vor, er hätte als Verantwortlicher auf der Insel bleiben sollen.
In einem Interview mit der norwegischen Zeitung Verdens Gang (VG) ging Pedersen unlängst auf diese Vorwürfe ein. Er habe sich im Nachhinein gefragt, ob er etwas anderes hätte tun können. Es sei jedoch hilfreich, sich bewusst zu sein, «dass Überlebensschuld ein natürliches Gefühl ist, aber nicht unbedingt das richtige Gefühl».
Hunderte andere Utøya-Überlebende fühlten sich ebenfalls schuldig, dass sie überlebt haben, erklärt Pedersen. Sie empfänden eine Verantwortung dafür, dass andere gestorben sind. Sie hatten schnelle Entscheidungen treffen müssen, um sich zu retten oder anderen zu helfen, sich zu verstecken oder zu fliehen, allein oder zusammen mit anderen.
Auf der Fähre, die Pedersen in Sicherheit brachte, befand sich auch Lars Fjærli Hjetland. In einem Twitter-Thread gab er vor kurzem Einblick in seine Gefühle im Nachgang des Terroranschlags – zum ersten Mal öffentlich: «Ich habe das noch nie öffentlich gesagt.»
Dette har jeg aldri fortalt offentlig før.
— Lars F. Hjetland (@LarsHjetland) July 17, 2021
22. juli var jeg i MS Thorbjørn sammen med @eskilpedersen. I årene etter har jeg kjent på skyld og skam, og har vegret meg for å fortelle historien om hvordan jeg overlevde terroren på Utøya.
In den Jahren nach dem Anschlag habe er Schuldgefühle und Scham empfunden und sich geweigert, die Geschichte zu erzählen, wie er den Terror auf Utøya überlebt hatte. Die an Pedersen gerichteten Vorwürfe hätten auch ihn getroffen, erklärt Hjetland.
Die Fähre mit Pedersen und Hjetland verliess Utøya kurz nachdem Breivik seine ersten Schüsse abgefeuert hatte. Während der Skipper das Schiff steuerte, lagen die anderen flach auf dem Boden. Über ihre Telefone erfuhren sie, dass auf der Insel wild geschossen wurde. Zehn Jahre später bekundet Hjetland auf Twitter, er habe sich oft nicht wie ein echter Utøya-Überlebender gefühlt: «Andere hatten Heldengeschichten – ich war ein Feigling. Zumindest wusste ich, dass andere so etwas denken könnten.» Aus diesem Grund habe er so wenig wie möglich darüber gesprochen.
Jene, die darüber sprachen, stiessen nicht nur auf Verständnis, sondern auch auf Widerstand, selbst auf offenen Hass. Denn in ihren Augen zielte Breiviks Bluttat auf die offene, multikulturelle Gesellschaft Norwegens, die auch Muslime aufnahm. Diese offene Gesellschaft wurde vornehmlich von der Sozialdemokratie geprägt, die in Norwegen lange Jahre regierte.
Doch diese politische Sicht auf den Anschlag teilen längst nicht alle, wie Gaute Børstad Skjervø feststellt. Der aufstrebende sozialdemokratische Politiker, der vor zehn Jahren als Sechzehnjähriger mit fünf Klassenkameraden nach Utøya fuhr und allein zurückkam, glaubt gemäss einer Reportage der «Berliner Zeitung», dass viele Norweger das Massaker eher als eine Art Unglück, als Wahnsinnstat eines Irren betrachten.
So würden heute Überlebende, die sich in der Öffentlichkeit zu Wort meldeten, in den sozialen Meiden beschimpft und manchmal gar mit dem Tod bedroht, sagt Børstad Skjervø.
Tatsächlich sind nicht wenige Überlebende des Anschlags der Ansicht, ihnen sei weder Raum noch Gelegenheit gegeben worden, um ihre Erfahrungen und Meinungen über dieses schreckliche Ereignis kundzutun, wie diesem kürzlich erschienen Kommentar in der Zeitung «Dagens Næringsliv» (DN) zu entnehmen ist. Die wie ein Mantra wiederholte Auffassung, Breiviks Anschlag sei ein Angriff auf ganz Norwegen gewesen, habe die rechtsextreme Motivation und Ideologie von Breivik in den Hintergrund gerückt.
In den Hintergrund gerückt ist mit der Zeit auch das Massaker selbst: Von Jahr zu Jahr wird in Norwegen weniger darüber gesprochen – ausser wenn ein runder Jahrestag ansteht wie dieses Jahr. Miriam Eingangshaug, die sich bei Støttegruppen 22. Juli – der norwegischen Vereinigung zur Unterstützung der Opfer – engagiert, beklagt, es gebe noch immer zu wenig psychologische Hilfsangebote für die Überlebenden. «Ich glaube, manchmal ist einfach der Wille nicht da. Viele sind der Meinung, wir sollten endlich darüber hinwegkommen.»
Ich war am 02.Aug.1980 im Zug auf Gleis 1, als italienische Faschisten den Bahnhof Bolognia in die Luft sprengten. 85 starben, 200 wurden verletzt und ich hatte keinen Kratzer.
Wen hunderte schreiend flüchten, flüchtet man selber auch!
Man redet nicht darüber, weil man der Frage ausweichen will, die man sich sein Leben lang selber stellt.
Man kann wohl allgemein nicht erwarten, solche Killer zu stoppen. Männer, die bereit sind unzählige Menschen zu töten, sind Killermaschinen. Sie frühzeitig erkennen, ist wohl die einzig mögliche Prävention. Ironischerweise mildert das ihre Strafe enorm, sodass vielleicht die Tat nur verzögert wird.