Alpiq geht’s ein bisschen wie Goethes Zauberlehrling: «Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los.» Die kurz vor Weihnachten angeschriebenen Bundesbehörden, welche der Stromkonzern um eine temporäre Liquiditätsspritze in Milliardenhöhe angefragt hatte, lassen sich nicht so schnell wieder abwimmeln. Die Maschinerie ist angeworfen, ein Zurück zur Tagesordnung kommt nicht in Frage – vorerst jedenfalls nicht.
Daran ändert auch der Umstand nichts, dass Alpiq am 3. Januar 2022 seinen Antrag zur Liquiditätsunterstützung wieder zurückgezogen hat. «Der Bund hat diesen Entscheid zur Kenntnis genommen», heisst es beim federführenden Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) lediglich. Die Arbeiten jedoch laufen weiter: Der Bund prüfe nun sowohl «kurzfristige Massnahmen innerhalb des geltenden Rechts, um bei einer allfälligen Wiederholung rasch reagieren zu können», als auch «langfristig, ob es neue Regeln oder Vorgaben braucht, um solche Situationen in Zukunft möglichst zu verhindern».
Schon kurz nach Eintreffen des Alpiq-Schreibens vom 22. Dezember 2021 hat der Bund eine departementsübergreifende Taskforce eingesetzt. Geleitet wird sie vom Benoît Revaz, dem Direktor des Bundesamtes für Energie, ebenfalls mit von der Partie sind Vertreter der Eidgenössischen Elektrizitätskommission Elcom, der Eidgenössischen Finanzverwaltung, des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco), des Bundesamts für wirtschaftliche Landesversorgung, des Bundesamts für Justiz sowie des Uvek-Generalsekretariats. Der Bundesrat wird laufend informiert.
Denn der Fall Alpiq hat allen deutlich vor Augen geführt: Es ist durchaus möglich, dass ein systemkritisches Stromunternehmen aus Liquiditätsgründen den Bund um Hilfe bittet – oder bitten muss. Mittlerweile geht es aber schon lange nicht mehr um Alpiq, sondern um die Branche als Ganzes. Schnell sind die Parallelen zum Finanzplatz gezogen, wo im Nachgang zur notfallmässigen Rettung der UBS zahlreiche neue Vorgaben für die Banken erlassen wurden.
Und genau das ist es, was die Strombranche nun fürchtet: Ein Wust an neuen Vorgaben, ein «Regulierungstsunami», wie es ein Branchenvertreter ausdrückt, ein «Too big to fail»-Paket, analog zur Bankenwelt. Dementsprechend genervt zeigt man sich in der anderen Stromunternehmen über Alpiqs Vorpreschen. «Es wäre die Aufgabe der Aktionäre gewesen, dieses Problem zu lösen, statt zum Bund zu rennen», heisst es etwa. Umso mehr als der Stromkonzern mehrheitlich, wenn auch nur indirekt öffentlichen Körperschaften gehört, unter anderem Westschweizern Kantonen und Gemeinden. Anderswo erklärt man sich Alpiqs Gang zum Bund damit, dass im Lauf der Pandemie die Hemmschwelle zum Ruf nach Staatshilfe «leider» gesunken sei. Und wieder anderswo heisst es: «Alpiq hat die Panik gepackt, wir sind sehr unglücklich darüber.» Offiziell freilich will sich niemand äussern.
Die Branche jedenfalls würde den Alpiq-Vorstoss am liebsten wieder vergessen. Für die BKW etwa «war und ist» eine staatliche Unterstützung kein Thema, wie Sprecher René Lenzin festhält. «Die BKW sieht auch keinen politischen Handlungsbedarf bezüglich neuer Regulierungen.» Axpo will sich mit «Rücksicht» auf die laufenden Gespräche nicht äussern, signalisiert aber Unterstützung für die Diskussion rund um Speicherreserven, die Energieministerin Simonetta Sommaruga «wegen der aktuellen Situation» jetzt vorziehen will, wie sie im Interview mit dem «Tages-Anzeiger» klar machte.
Aber dabei wird es kaum bleiben, weitere Auflagen dürften folgen, etwa solche zu mehr Transparenz. Zur Diskussion steht auch die Ausweitung der Kompetenzen der Elcom, sodass aus der Aufsichtsbehörde eine Art Finanzmarktaufsicht (Finma) für die Stromwirtschaft werden könnte.
Grund für Alpiqs Gang zum Staat waren die vor Weihnachten in die Höhe geschnellten Strompreise. Das Energiegeschäft unterliege «Verwerfungen, wie wir sie noch nie gesehen haben», hielt BKW-Chefin Suzanne Thoma in der Weihnachtswoche 2021 gegenüber CH Media fest. «Zur Illustration: Der Preis für eine Megawattstunde beträgt derzeit bis zu 3000 Euro. In den Tiefpreisjahren lag er auch mal bei 25 Euro.» Die Gründe sind vielfältig, sie reichen von den geopolitischen Spannungen, die sich in der Ukraine-Krise manifestieren, bis zum Umstand, dass Frankreich gleich eine ganze Reihe von AKW wegen technischer Probleme abschalten musste.
Nun sind steigende Strompreise eigentlich eine gute Nachricht für die Stromproduzenten, erhalten diese doch mehr Erlös pro produzierte Kilowattstunde. Doch gleichzeitig benötigen die Stromkonzerne auch mehr Liquidität, welche sie als Sicherheiten bei der Börse als Gegenpartei hinterlegen müssen. Oder anders ausgedrückt: Verdreifachen sich die Preise, dann müssen die Stromproduzenten ihre Verkäufe mit dreimal mehr Cash absichern. So gesehen erkennt Daniel Rupli, Leiter Aktien- und Obligationenresearch bei der Credit Suisse, im Hilferuf von Alpiq einen «Warnschuss an die ganze Stromindustrie».
Die Stromfirmen haben also keine Profitabilitäts-, sondern Liquiditätsprobleme. Sie haben sich nicht verzockt, wie manche Politiker ihnen unterstellen. Es sind die Spielregeln der Börse, die ihnen zu schaffen machen. Offenbar war man selbst in Leipzig, wo die grösste Strombörse EEX ihren Sitz, überrascht, ob den Geldmengen, die plötzlich gefordert wurden.
Jedenfalls sind derzeit alle Stromunternehmen auf der Suche nach mehr Liquidität. Alpiq hat mittlerweile 230 Millionen Franken von seinen Aktionären erhalten und wohl noch mehr von den Banken, Axpo hat am Dienstag eine Anleihe im Wert von 500 Franken platziert. Damit will der Konzern seinen Nachhaltigkeitszielen näher kommen, aber auch seinen «finanziellen Handlungsspielraum vergrössern», wie Finanzchef Joris Gröflin erklärt. Zwei Tage später legte die BKW nach und nahm am Kapitalmarkt 200 Millionen Franken auf. Gar über 10 Milliarden Euro musste sich der deutsche Stromgrosskonzern Uniper sichern, 2 Milliarden davon über die staatlichen KfW-Bank.
Die gestiegenen Preise respektive Sicherheiten lassen sich gemäss CS-Analyst Rupli auch an wachsenden Bilanzsummen ablesen: So hat sich etwa die Bilanzsumme der Axpo innerhalb eines Jahres von rund 22 auf gut 44 Milliarden gar verdoppelt. Treiber sind auf der Aktiv- wie auch auf der Passivseite die starke Zunahme von sogenannten Derivaten, also Finanzprodukte, deren Wert sich von der Entwicklung eines Basispapiers ableitet. «Das ist zwar per se nicht schlecht. Doch nimmt die Transparenz ab, wird die Analyse, wie es einer Firma geht, schwieriger.» (saw/ch media)
Beim Strom geht es vorallem um Physik und nicht um Geld.