Die Schweiz und die Nato: Es ist kompliziert. Bei der Vorstellung der Armeebotschaft 2022 (inklusive Kauf des Kampfjets F-35) kürzlich in Emmen (LU) kam ich ins Gespräch mit einem Westschweizer Kollegen. Auf meine Bemerkung, die Schweiz profitiere seit langer Zeit vom Schutz der Nato, schaute er mich verständnislos an: «Das glaube ich nicht!»
Man kann glauben, was man will. Seine Reaktion aber war typisch: In zu vielen Köpfen wird hierzulande verdrängt, dass die Schweiz seit Jahrzehnten eine «Trittbrettfahrerin» des Nordatlantikpakts ist. Und das betrifft nicht nur den nuklearen Schutzschirm. Doch das Verhältnis zur Nato ist eines der grössten politischen Tabus des Landes.
Auf der linken Seite wird eine seriöse Auseinandersetzung durch Antiamerikanismus und Pazifismus behindert. Rechts vernebelt ein dogmatischer Neutralitätsbegriff, oft in Kombination mit Réduit-Nostalgie, den nüchternen Blick auf die Nato-Abhängigkeit. Man klammert sich an die Vorstellung, die Eidgenossenschaft könne und müsse sich selbst verteidigen.
Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine aber beginnt das Tabu zu bröckeln. Als «Rammbock» profilierte sich FDP-Präsident Thierry Burkart, der letzte Woche gleich in doppelter Ausführung für eine «massiv» verstärkte Zusammenarbeit der Schweiz mit der Nato warb, mit einem Tamedia-Interview und einem Gastkommentar in der NZZ.
«Die Sicht der Schweiz als sich autonom verteidigender Igel ist nicht mehr adäquat für die europäischen Konfliktszenarien des 21. Jahrhunderts: Sicherheit kann selten noch rein territorial verstanden werden», schrieb der Aargauer Ständerat mit Bezug auf das seit dem Zweiten Weltkrieg dominante Selbstverständnis der Landesverteidigung.
Beispielhaft dafür war der igelförmige Pavillon der Armee an der Expo 64 in Lausanne. Diese Idee wirkt heute überholt. «Wenn wir angegriffen würden, dann dürften weitere Teile Westeuropas betroffen sein. Und in einem solchen Fall müssten wir uns sinnvollerweise im Verbund mit anderen Staaten verteidigen», meinte Burkart im Tamedia-Interview.
Nüchtern betrachtet galt dies schon zu Zeiten der Expo und überhaupt im Kalten Krieg. Die Schweiz profitierte davon, dass der Feind, der in allen militärischen Übungsszenarien rot war und aus dem Osten angriff, sich in weiter Ferne befand. Sie konnte die Illusion der autonomen Verteidigung aufrechterhalten und den faktischen «Nato-Puffer» ignorieren.
Nun ist der «Böse Feind» von einst zurück, und das nicht nur als abstrakte Bedrohung, sondern als militärischer Aggressor gegenüber einem Nachbarland. Das bringt auch in anderen europäischen Ländern eine vertiefte Annäherung oder gar Mitgliedschaft in der Nato auf die politische Tagesordnung, namentlich in Finnland und Schweden.
Besonders heikel ist das Thema für die Finnen. Sie teilen eine mehr als 1300 Kilometer lange Grenze mit Russland und haben aus historischen Gründen (Stichwort Winterkrieg 1939/40) eine zumindest ambivalente Haltung zum übermächtigen Nachbarn. Eine Nato-Mitgliedschaft war auch aus diesem Grund lange nicht mehrheitsfähig.
Das hat sich seit Beginn des Ukraine-Kriegs geändert. Umfragen zeigen in Finnland eine Mehrheit für den Nato-Beitritt. Ministerpräsidentin Sanna Marin wies am Sonntag in einem Interview auf die Vorteile einer Mitgliedschaft hin. Beobachter gehen davon aus, dass die finnische Regierung schon im Mai oder Juni ein Beitrittsgesuch einreichen könnte.
In der Schweiz ist dies nach wie vor kein Thema. Auch Thierry Burkart will zwar mehr Zusammenarbeit, den Nato-Beitritt aber «ganz klar nicht». Das ultimative Tabu hält nach wie vor. Dabei ist die Bevölkerung womöglich in diesem Punkt weiter als die Politik. Das zeigt sich anhand der alljährlich erhobenen Sicherheitsstudie der ETH Zürich.
Obwohl die letzte Ausgabe im Juni 2021 erschien, also lange vor dem Angriff auf die Ukraine, stieg die Zahl der Befragten, die sich für eine Annäherung der Schweiz an die Nato ausspricht, gegenüber 2020 von 36 auf 45 Prozent sprunghaft an. Und mit 25 Prozent hat ein Nato-Beitritt sogar deutlich mehr Befürworter als ein EU-Beitritt (13 Prozent).
Nur ein kleiner Teil (4 Prozent) ist «sehr» mit einem Beitritt einverstanden, dennoch ist einer beachtlichen Anzahl Menschen offenkundig bewusst, dass die Sicherheit der Schweiz auch von der Nato abhängt. Nicht zum ersten Mal scheint das «gemeine Volk» in solchen Fragen pragmatischer zu ticken als die ideologisch «belastete» Politik.
Ein Nato-Beitritt dürfte dennoch auf absehbare Zeit undenkbar sein, und das nicht nur wegen der Neutralitäts-Blockade. Die Schweiz müsste in diesem Fall die Vorgabe übernehmen, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in die Verteidigung zu investieren. Das wäre eine Zunahme von heute 5 auf 14 Milliarden Franken pro Jahr.
Es fragt sich, wie die Schweizer Armee eine solche «Budget-Explosion» verdauen soll. Selbst SVP und FDP fordern «nur» einen Anstieg von 5 auf 7 Milliarden. Gleichzeitig verdeutlichen unsere im Vergleich tiefen Militärausgaben, wie sich die Schweiz im Windschatten der Nato bequem gemacht hat. Auch dieser Aspekt wird konsequent ausgeblendet.
Nun aber gerät Bewegung in die Debatte, und das nicht erst seit Thierry Burkarts Vorpreschen. Im letzten Oktober kündigte Verteidigungsministerin Viola Amherd an, eine Kooperation mit dem EU-Militärprojekt Pesco (die Abkürzung steht für Permanente Strukturierte Zusammenarbeit) zu prüfen. Es gilt als Vorstufe zu einer europäischen Armee.
Pesco wurde 2017 ins Leben gerufen, als Reaktion auf US-Präsident Donald Trump und seine mehr oder weniger offen geäusserte Drohung, die Nato-Mitgliedschaft aufzukündigen. Natürlich betonte Amherd eilfertig, es gebe keinen Konflikt mit der Neutralität, da die Schweiz sich nicht an der gemeinsamen Armee oder an Truppeneinsätzen beteiligen würde.
Die Möglichkeit zu einer verstärkten Zusammenarbeit auch mit der Nato (im Fachjargon Interoperabilität genannt) erachten die Bundesrätin wie Armeechef Thomas Süssli aber als sinnvoll. Womit der F-35 ins Spiel kommt. Luftwaffenchef Peter Merz betonte an der Präsentation in Emmen explizit die Fähigkeit zum Austausch mit anderen Systemen.
Man kann es pointiert formulieren: Wenn die Schweiz diesen «luxuriösen» Hightech-Jet anschaffen will, kann und darf sie sich nicht damit begnügen, damit in unserem Luftraum zu patrouillieren, etwa zum Schutz des WEF in Davos. Es drängt sich regelrecht auf, die helvetische F-35-Flotte in eine gemeinsame europäische Luftverteidigung zu integrieren.
«Die Kampfjets F-35A sind spezifisch für Einsätze in einem militärischen Verbund (der Nato) konzipiert», heisst es dazu in einer kürzlich veröffentlichten Studie der liberalen Denkfabrik Avenir Suisse: «Um ihr Potenzial voll auszuschöpfen, ist die transnationale Militärkooperation auszubauen, beispielsweise durch die Teilnahme an Nato-Übungen.»
Alles andere ist überteuerte Réduit-Nostalgie. Immerhin wankt selbst bei SVP-Vertretern das Neutralitäts-Dogma. Der Berner Ständerat und Sicherheitspolitiker Werner Salzmann hält eine Kooperation mit der Nato zumindest im Bereich der Raketenabwehr für denkbar: «Gegen satellitengestützte Raketen aus grosser Höhe sind wir ungeschützt.»
Eigentlich gehört die Schweiz in die Nato. Aber dafür ist die Zeit aus verschiedenen Gründen nicht reif. Der Ukraine-Krieg sollte jedoch Anlass genug sein, um unsere seit Jahrzehnten bestehende Abhängigkeit vom westlichen Verteidigungsbündnis schonungslos zu reflektieren. Und die Zusammenarbeit zu vertiefen, wo immer es sich anbietet.
Die Nato ist ein Verteidigungsbündnis von verschiedenen kleinen und grossen mehr oder weniger demokratischen Staaten, die die Freiheit und Eigenständigkeit der Länder und Bürger gegen radikale, destruktive Kräfte verteidigt. Nicht mehr, nicht weniger. Es verbindet die Länder und verhindert Konflikte.
Ich habe es noch nie ganz verstanden, warum es so breit gestreute Animositäten gegen die Nato gibt. Gerade Pazifisten müssten total Fan sein von der Nato, weil sie Kriege verhindert. Als Kind der 80er danke ich der Nato für den Schutz den sie Europa gewährt.
Die Entlöhnung von Milizsoldaten mit Erwerbsersatz, wobei es sich um ziemliche Summen handelt, läuft z.B. komplett seperat vom Budget des VBS.
Würde mich deshalb interessieren, wie unsere Verteidigungsausgaben im Vergleich zur NATO-Richtlinie aussehen, wenn man alle effektiven Militäraushaben berücksichtigt.