Vor 100 Jahren holte der Freisinn dank der Majorzwahl zum letzten Mal mehr als die Hälfte der Nationalratssitze. Ein Jahr später stimmte das Volk in einem historischen Entscheid für ein gerechteres System, den Proporz.
Hunger und verbreitetes soziales Elend prägen das Klima, als die Schweiz im Kriegsjahr 1917 ihre Männer an die Wahlurnen ruft. Doch Hoffnungen auf einen politischen Wandel zerschlagen sich einmal mehr. Trotz Verlusten sichern sich die Freisinnigen am 28. Oktober mit 103 von 189 Sitzen die absolute Mehrheit im Nationalrat.
Fast 70 Jahren lang - seit der Gründung des Bundesstaates 1848 - sitzen die Radikal-Liberalen (heute FDP) damals schon an den Schalthebeln der Macht. Möglich macht es das Majorzsystem - jenes Wahlverfahren, bei dem die Mehrheit entscheidet, wer gewählt ist, während die Minderheit leer ausgeht.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts regt sich immer mehr Widerstand gegen die Dominanz der Freisinnigen, die bis 1891 auch sämtliche Bundesräte stellten. 1899 reichen linke und katholisch-konservative (heute CVP) Kreise zwei Initiativen für die Volkswahl des Bundesrates und die Proporzwahl des Nationalrats ein.
«Fremdländisches Gewächs»
Die Gegner bekämpfen die sogenannte Doppelinitiative als «Beutezug gegen die politische Moral und Sicherheit» des Landes, wie im «Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen» nachzulesen ist. Der Proporz sei ein «fremdländisches Gewächs», zerstöre die Parteien und und führe zur Zersplitterung der Parlaments.
«Proporz heisst Gerechtigkeit», kontern die Befürworter, doch bleibt ihr Ruf vorerst ungehört. Am 4. November 1900 werden beide Vorlagen abgelehnt, wobei der Proporz mit 59.1 Prozent Nein etwas besser abschneidet als die Volkswahl des Bundesrates (65 Prozent Nein). Die Initianten lassen aber nicht locker und reichen knapp zehn Jahre später erneut eine Proporz-Initiative ein.
Genervte Landesväter
Der Bundesrat zeigt sich erstaunt, «schon wieder den Ruf nach dem Proporz» zu hören. «Sind wir in einen Zustand der parlamentarischen Unfähigkeit oder Anarchie geraten, der eine solche Änderung gebieterisch erfordert?», fragt er spöttisch. «Verwirrung und Anarchie» drohten doch vielmehr ohne klare Mehrheiten. Die Schweiz werde zu einem «Schiff ohne Ballast und ohne Kompass».
Wiederum gelingt es den Freisinnigen, das Stimmvolk bei der Stange zu halten. Anders als 1900 schafft die Initiative aber am 23. Oktober 1910 das Ständemehr und scheitert im Volk mit 52.5 Prozent Nein nur relativ knapp.
Ermutigt durch dieses Resultat, lancieren Sozialdemokraten und Konservative drei Jahre später einen weitere Initiative und reichen nach nur vier Monaten die nötigen Unterschriften ein. Auftrieb gibt ihnen auch die Tatsache, dass, ausgehend von den Pionieren Tessin und Neuenburg 1891, immer mehr Kantone das Proporzsystem mit Erfolg eingeführt haben.
«Wichtigster Entscheid»
Bis zur Abstimmung vergehen allerdings noch fünf Jahre. So lange verschleppt das Parlament die Beratungen. Am 13. Oktober 1918, kurz vor dem Generalstreik, wird die Vorlage bei einer Beteiligung von 49.5 Prozent mit 66.8 Prozent der Stimmen angenommen. Nur drei Kantone (AI, TG, VD) sagen Nein. Politologen sprechen heute vom wichtigsten Entscheid, der durch eine Volksinitiative je ausgelöst wurde.
1919 kommt das neue System in den um ein Jahr vorgezogenen Wahlen erstmals zur Anwendung. Es führt zu einer massiven Verschiebung der Kräfteverhältnisse. Die Radikalen büssen fast die Hälfte ihrer Abgeordneten und damit die absolute Mehrheit ein. Die Sozialdemokraten können die Zahl ihrer Mandate mit 41 beinahe verdoppeln, und die Bauernpartei (heute SVP) erobert aus dem Stand 30 Sitze. (sda)