Der legendäre britische Kriegspremier Winston Churchill hat viele Bonmots hinterlassen. Ein besonders denkwürdiges betrifft die USA, die Heimat seiner Mutter: «Man kann sich immer darauf verlassen, dass die Amerikaner das Richtige tun – nachdem sie alles andere ausprobiert haben.»
Derzeit hofft man wieder einmal, dass Churchill Recht behalten wird. Denn im Wahlkampf um die US-Präsidentschaft 2016 läuft so ziemlich alles schief, was schief laufen kann. Nicht nur ist sein Niveau unterirdisch. Die Demokratin Hillary Clinton und der Republikaner Donald Trump geben vielen Amerikanern das Gefühl, sie müssten das geringere von zwei Übeln wählen.
Noch etwas drastischer drückte es die wunderbare betagte Südstaaten-Lady aus, in deren zur B&B-Unterkunft umgewandelten Antebellum-Anwesen in Natchez am Ufer des Mississippi ich kürzlich eine Nacht verbracht habe. Die USA müssten «the Best of the Worst» wählen, meinte sie in ihrem auch für geübte Ohren nur schwer verständlichen Southern Accent. Ihre Gesinnung war unverkennbar konservativ, mit Donald Trump aber kann sie wenig anfangen.
Das gilt nicht für alle älteren weissen Amerikaner, wie ich auf meiner Reise durch die Südstaaten feststellen konnte. In einem Casino-Hotel an der Golfküste von Mississippi fragte mich ein Mann im Lift, wen ich wählen werde. Ich gab mich als Ausländer zu erkennen, der nicht wählen kann, meinte aber, es wäre wohl Clinton. Er schaute mich entgeistert an und sagte: «Sie ist eine Sozialistin!» Trump dagegen sei «ein Businessman», er werde in Washington aufräumen.
Ganz anders verlief eine Begegnung in Montgomery, der Hauptstadt des Bundesstaats Alabama. Dort sprach mit ein anderer älterer Mann an, der mit seinem hellen Anzug wie das Klischee eines Südstaatlers daherkam. Er entpuppte sich jedoch als Veteran der Bürgerrechtsbewegung im einst strikt rassengetrennten Alabama. Als einer von nur fünf Weissen wurde er auf einer «Wall of Fame» verewigt. Zu Trump hatte er eine klare Meinung: «Seine Wahl wäre ein Desaster für das Land!»
Willkommen im Amerika des Jahres 2016, einer tief gespaltenen und verunsicherten Nation.
Einem Land, in dem Donald Trump in die Schlussrunde der Präsidentschaftswahl vordringen konnte. Ein «Businessman», dessen geschäftliche «Erfolge» vorab in einer kreativen Ausnutzung des liberalen Konkursrechts und der Möglichkeiten zur Steuervermeidung bestehen. Ein Kandidat, der an niedrigste Instinkte appelliert. Als er in seinem ersten Auftritt mexikanische Einwanderer als Vergewaltiger und Diebe beschimpfte, glaubten viele, er werde rasch verschwinden.
Welch ein Irrtum! Bei seiner weissen Anhängerschaft, die sich wirtschaftlich und demografisch in die Ecke gedrängt fühlt, löst er genau mit solchen Sprüchen Begeisterung aus. Sie jubeln ihm zu, wenn er seine Gegenkandidatin in den Knast stecken will. Für sie ist Hillary Clinton eine Lügnerin. Dabei ist es Trump, der lügt, wenn er nur den Mund aufmacht. In seinen Fernsehspots lässt er verkünden, gegen Clinton werde strafrechtlich ermittelt – was nicht zutrifft.
Die Demokratin aber hat ihre eigenen Schwächen. Da wären etwa die Skandale, die sie seit Jahrzehnten begleiten – nicht nur die ominöse E-Mail-Affäre – oder ihr Ruf als berechnender Kontrollfreak. Sie schafft es auch nicht, die Menschen zu begeistern, wie dies ihr Ehemann Bill oder Barack Obama meisterhaft beherrschen. Vor allem aber vermittelt sie das Gefühl, sie sei «more of the same». Auch aus diesem Grund haben so viele linke Millenials, die sich mit Blick auf die Zukunft ähnlich verunsichert fühlen wie die Trump-Fans, auf Bernie Sanders gesetzt.
Die Amerikaner sind nicht zu beneiden. Und viele Amerika-Hasser fühlen sich angesichts des peniblen Spektakels in ihrer Ansicht bestätigt, dass die USA ein korruptes und primitives Land sind. Sie sollten nicht zu früh jubeln. Amerika bleibt trotz allem ein Leuchtturm für den Rest der Welt.
Ein eher unerwarteter Kronzeuge für diese Behauptung ist Kollege Constantin Seibt. Er hat im «Tages-Anzeiger» einen offenen Brief an die Amerikaner in der Schweiz veröffentlicht, in dem er sie zur Wahl von Hillary Clinton aufruft. Vor allem aber ist der Text ein Loblied auf die USA, was seiner – linken – Fangemeinde sauer aufgestossen ist. Dabei hat Seibt vollkommen recht.
Sicher, die USA haben vieles «ausprobiert», ehe sie das Richtige getan haben. Bereits ihre Gründung beruhte auf einer Lüge. Alle Menschen seien gleich erschaffen worden, heisst es in der von Thomas Jefferson verfassten Unabhängigkeitserklärung von 1776. Das galt nur für die weissen Einwanderer, nicht aber für die Ureinwohner und schon gar nicht für die versklavten Afrikaner. Ein Widerspruch, dessen sich der Sklavenhalter Jefferson durchaus bewusst war.
Dennoch sind die USA zu jenem Land geworden, das der Menschheit die Richtung vorgibt. An seiner Populärkultur kommt niemand vorbei, ob man sie mag oder nicht. Im Silicon Valley wird die Welt von morgen entwickelt. Seibt bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt: «Sosehr auch Amerika eine dunkle Tradition des Rassismus, eine Verachtung für Verlierer hat – im Zweifel entscheidet es sich immer für die Richtung nach vorn: für Offenheit.»
Belege? Bitte sehr: Vor 20 Jahren brauchte die TV-Komikerin Ellen DeGeneres beträchtlichen Mut, sich als Lesbierin zu outen. Ein konservativer Republikaner beschimpfte sie als «Ellen DeGenerate». Vor zehn Jahren war eine klare Mehrheit der Amerikaner gegen die Homo-Ehe. Heute ist eine ebenso deutliche Mehrheit dafür. Der Oberste Gerichtshof in Washington hat sie 2015 in einem wegweisenden Urteil im ganzen Land legalisiert.
Ein anderes Beispiel? Vor 20 Jahren galten Drogen als Teufelszeug. Der «War on Drugs» führte dazu, dass die USA im Verhältnis mehr Menschen einsperren als jedes andere demokratische Land. Inzwischen haben vier Bundesstaaten Cannabis legalisiert. Fünf weitere dürften am Dienstag folgen, darunter Kalifornien, der grösste Gliedstaat. Dort wird auch über die Abschaffung der Todesstrafe abgestimmt. In Colorado steht eine Initiative auf dem Stimmzettel, die unheilbar kranken Menschen erlauben will, sich legal Medikamente zur Selbsttötung zu beschaffen.
Aufschlussreich war auch mein Aufenthalt in New Orleans, der lebensfrohen Stadt im Mississippi-Delta, die vor elf Jahren durch Hurrikan Katrina verwüstet wurde. Verantwortlich dafür war nicht zuletzt das Versagen der staatlichen Organe, von der lokalen bis zur nationalen Ebene. Seither wurde nicht nur der Hochwasserschutz verstärkt. Es existiert nun auch ein klarer Plan zur Evakuierung der Bevölkerung. Vor Katrina gab es so etwas trotz bekannter Gefährdung nicht.
Beeindruckend sind auch andere Massnahmen. Nach Katrina wurden verslumte und drogenverseuchte Wohnblöcke abgerissen und durch sozial durchmischte Siedlungen ersetzt. Dort leben heute Wohnungseigentümer, Menschen, die eine Marktmiete bezahlen, und solche, deren Mietzins subventioniert wird. Das Konzept funktioniert, wofür nicht zuletzt die Eigentümer sorgen, die alles Interesse haben, dass ihr Besitz nicht an Wert verliert.
Auch im Bildungswesen kam es zu einer wegweisenden Reform. Amerikas öffentliche Schulen haben nicht den besten Ruf. In New Orleans war er vor Katrina miserabel. Nach der Katastrophe wandelte die Regierung des Staats Louisiana die städtischen Schulen in so genannte Charter Schools um. Diese werden staatlich finanziert, aber privat betrieben. Der Systemwechsel ist nicht unumstritten, die Resultate aber sprechen für sich: Das Leistungsniveau der Schülerinnen und Schüler hat sich beträchtlich erhöht. Heute gilt New Orleans als Vorbild für andere US-Städte.
Diese Beispiele zeigen nicht nur, dass die USA fähig sind, aus Fehlern zu lernen. Sie belegen die ungebrochene Dynamik der amerikanischen Gesellschaft und ihre Bereitschaft, Krisen als Chance zu verstehen. Welch ein Unterschied zu den oft verknorzten Europäern, die sich an das Bestehende klammern und sich am liebsten in ihrer Wohlstandsfestung verbarrikadieren.
Sicher, die Trump-Anhänger zeigen ähnlich Verhaltensmuster. Deshalb sind sie so anfällig für sein vollmundiges Versprechen, er werde «Amerika wieder gross machen». Es ist nicht anzunehmen, dass sie sich mit einer Niederlage ihres Heilsbringers abfinden würden. Die Polarisierung wird andauern, die USA werden nicht so schnell zur Ruhe kommen. Und neue Herausforderungen stehen an, allen voran die Digitalisierung, die weitere Mittelstands-Arbeitsplätze bedroht.
Einen Niedergang Amerikas heraufzubeschwören, ist dennoch unangebracht. Eine Republik, die 1791 mit der Bill of Rights grundlegende Rechte wie die Rede-, Presse- und Religionsfreiheit in der Verfassung verankert hat, bleibt für viele Menschen, die bis heute davon nur träumen können, eine «Shining City upon a Hill», wie es Ronald Reagan pathetisch ausgedrückt hat. Oder eine «unentbehrliche Nation», so Bill Clintons ehemalige Aussenministerin Madeleine Albright.
Vielleicht werden die Amerikaner am Dienstag wieder einmal etwas ausprobieren und Donald Trump zum Präsidenten wählen. Vielleicht wählen sie doch mit Hillary Clinton das «kleinere Übel». Auf längere Sicht aber sei die Vorhersage gewagt, dass Winston Churchills Bonmot sich einmal mehr bewahrheiten und die Amerikaner am Ende das Richtige tun werden.
Ich frage mich, wie eine solche Aussage einzuschätzen ist. Sagt sie etwas aus über die USA, über Herrn Blunschis Verständnis von Journalismus oder gar über die Rolle vom "Rest der Welt?"
Wie auch immer, zynisch ist sie allemal.
Der Autor dieses Artikels beweist eindrücklich, dass dies Wahr ist.