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Sensationsgier: Was «Gaffen» mit Empathie zu tun hat

Das Gesellschaftsphänomen «Gaffen» unter der psychologischen Lupe.
Das Gesellschaftsphänomen «Gaffen» unter der psychologischen Lupe.Bild: Imago Images

Sensationsgier: Was «Gaffen» mit Empathie zu tun hat

Wo es Blaulicht gibt, ist oft auch Blitzlicht. Schaulustige, die Fotos und Videos machen, sind bei Unfällen oft ein Problem. Zu «Gaffen» gilt als verwerflich. Aber ist nicht jeder Mensch ein «Gaffer»? Das sagt ein Psychologe.
22.10.2023, 05:5320.11.2023, 14:46
Dominic Flückiger / ch media
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Es geschah vergangenen Samstag auf der Autobahn A1 bei Urtenen-Schöhnbühl. Am 14. Oktober kam es dort zu einer Ausfahrtkollision. Drei vorbeifahrende Automobilisten filmten und fotografierten die Szene und müssen nun mit einer Anzeige rechnen.

Die Schaulust ist bei manchen Menschen so gross, dass eine Geldstrafe in Kauf genommen wird. Aber weshalb macht man das? Und wie verwerflich ist «Gaffen»? Psychologe Jérôme Endrass hat sich damit befasst.

«Gaffen hat auch mit Empathie zu tun. Das klingt zugegebenermassen ein wenig paradox», sagt der Leiter der Forschungsgruppe «Forensische Psychologie» der Universität Konstanz. Einerseits wolle man sich in die Situation hineinversetzen, was empathisch ist, und gleichzeitig schätzten die Beobachtenden aber auch die eigene Sicherheit. Da beginnt das Paradoxe: Man fühlt mit, aber der eigene Alltag geht oft ohne grössere Änderungen weiter. So ist man Teil der Situation, ohne dass man darin verwickelt ist und ohne dass man Konsequenzen davon trägt.

Das «Gaffen» und die Sensationsgier hätten eine pro-soziale Komponente, sagt Endrass. Man bekomme mit, was geschehe. Daran möchten «Gaffer» teilhaben. Die Problematik bestehe in der eventuellen Behinderung der Einsatzkräfte, des Verkehrs oder in der Gefahr, dass weitere Unfälle geschehen könnten. «Der Kern des ‹Gaffens› muss aber nicht zwingen schlecht sein. Es hat mehr damit zu tun, dass man sich für das Schicksal anderer interessiert», sagt Endrass.

Weiter sei in Kombination mit der Tragik, Wegschauen sei fast unmöglich. Der Psychologe vergleicht diese Sensationslust mit klassischen Klatsch-und-Tratsch-Geschichten: «Da fällt es schwer, abstinent zu bleiben.» Dass man bei Unfällen hin- statt wegschaue, sei natürlich. «Man interessiert sich für andere. Also will man auch an dem Leid teilhaben. Hinzu kommen individuelle Gründe, welche sehr unterschiedlich sein können», so Endrass.

Gaffen im Internet

Was es früher nur in der Realität zu sehen gab, ist heute auch im virtuellen Raum weit verbreitet. Im Internet gibt es unzählige sogenannte «Fail Compilations». Das sind Zusammenschnitte von Unfällen, welche beispielsweise auf Videoplattformen wie YouTube zu finden sind. «Das kann dazu führen, dass man immer noch mehr sehen möchte. Allerdings würde ich verneinen, dass so die Affinität für Extremität zunimmt», sagt Endrass.

Durch Social Media hat sich der Zugang zu Bildern und Videos von Unfällen vereinfacht und die Menge an solchen Inhalten ist gestiegen. So wird nicht nur in der realen Welt «gegafft», sondern auch virtuell. Mit dem Unterschied, dass der Online-Konsum keine Hilfskräfte behindert.

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