Die vererbte Ungleichheit – was die Zahlen wirklich zeigen
100 Milliarden Franken – so viel wird nach einer Schätzung der Universität Lausanne dieses Jahr in der Schweiz vererbt. Eine Schätzung, weil es keine offiziellen Zahlen zu Erbschaften in der Schweiz gibt. Bekannt ist dagegen, dass bis zu 80 Prozent der Super-Reichen durch Erbschaften an ihr Vermögen kamen – und das mehrheitlich steuerfrei, denn die Erbschaftssteuer wurde in den letzten 30 Jahren kontinuierlich gesenkt oder gar ganz abgeschafft.
Während 1990 die Erbinnen und Erben noch 4,1 Rappen an Erbschaftssteuer pro Franken zahlten, sind es 2024 gerade noch 1,4 Rappen.
Ausgehend vom Kanton Schaffhausen 1991 bis zum Kanton Genf 2004 wurden die Erbschaftssteuern landesweit gesenkt, Obwalden schaffte die Erbschaftssteuer 2017 sogar ganz ab. Für Ehepartnerinnen und Ehepartner kennt heute kein einziger Kanton eine Erbschaftssteuer mehr und nur noch vier Kantone belasten ein Erbe an direkte Nachkommen. Ein Grossteil der Erbschaften wird also steuerfrei an die nächste Generation weitergegeben.
Auch die Vermögenssteuer kann die wachsende Ungleichheit nicht abschwächen. Diese wurde, gleich wie die Erbschaftssteuer, in den meisten Kantonen seit 1990 gesenkt. Die Vermögenssteuereinkünfte haben gegenüber dem vererbten Vermögen gar abgenommen.
Ökonominnen und Ökonomen schätzen die Erbschaftssteuer als eine der effizientesten Methoden der Staatsfinanzierung ein. Sie schneidet in den beiden wichtigsten Kategorien, der Auswirkung auf die wirtschaftliche Tätigkeit und der Verteilwirkung gut ab. Sie betrifft die breite Masse verhältnismässig wenig und kann gezielt hohe Vermögen umverteilen, die keiner Eigenleistung entspringen. Und dennoch ist sie unbeliebt.
Die Juso wagt sich mit der «Initiative für eine Zukunft» nun trotzdem an einen Versuch, die Erbschaftssteuer für Super-Reiche einzuführen und hat dafür stark finanzierten Gegenwind geerntet.
Die Initiative
Am 30. November kommt die Initiative der Jungsozialisten zur Abstimmung. Sie will, dass eine Bundessteuer von 50 Prozent auf Erbschaften und Schenkungen ab einem Freibetrag von 50 Millionen Franken erhoben wird. Die Einnahmen sollen dann direkt in Fonds zur Bekämpfung des Klimawandels, insbesondere in Bereiche der Arbeit, des Wohnens und der öffentlichen Dienstleistungen, fliessen.
CHF 70'000'000 - CHF 50'000'000 = CHF 20'000'000
Auf diesen 20 Millionen Franken, die über dem Freibetrag liegen, würde nun eine 50-prozentige Steuer erhoben. Sprich: Auf eine Erbmasse von 70 Millionen Franken würden 10 Millionen Franken an Erbschaftssteuer anfallen und 60 Millionen Franken würden an die Erbinnen und Erben fliessen. Auf das Erbe in unserem Rechenbeispiel fällt also ein Steuersatz von 14,2 Prozent an.
Das Hauptargument, warum die Gelder laut der Juso-Initiative im Klimaschutz zweckgebunden sein müssten, ist die Verschärfung der Klimakrise durch die Super-Reichen. Mit ihrem Konsum wie auch durch ihre Investitionen belasteten die Milliardäre das Klima enorm, wie eine Studie der ETH belegt. Wenn alle so viel Treibhausgase ausstossen würden wie die reichsten 0,1 Prozent der Weltbevölkerung, hätte sich die Erde seit 1996 um 12,2 Grad erwärmt.
Aus Sicht des Bundesrats ist die Finanzierung der beschlossenen Klimapolitik bereits ohne allfällige Zuschüsse aus der Juso-Initiative gesichert. Hier widerspricht Axel Michaelowa, Leiter der Forschungsgruppe «Internationale Klimapolitik» an der Universität Zürich gegenüber dem «Echo der Zeit»: «Wir wissen, dass die jährlichen Budgets unter starkem Spardruck stehen und ganze Bereiche komplett gekürzt werden. Insofern sind die Aussagen des Bundesrats nicht korrekt.»
Finanzministerin Karin Keller-Sutter will im Rahmen des neuen Sparpakets rund 400 Millionen Franken beim Klimaschutz einsparen, auch wenn die Schweiz den Treibhausgasausstoss seit dem Jahr 2000 gerade mal von 123 auf 112 Tonnen senken konnte.
Was die Juso-Initiative will, ist klar. Doch herrscht durch die unklare Datenlage bezüglich der Auswirkungen und der Betroffenheit grosse Unklarheit. Denn es gibt wenige einfach zugänglichen Daten vom Bund oder den Kantonen.
Diese Unsicherheit lässt in der Debatte viel Spielraum für Interpretationen zu den möglichen Auswirkungen der Initiative offen. So warnt der Verband der Schweizer Tech-Industrie Swissmem auf seiner Website vor der «Enteignung der Familienunternehmen» und die SVP nennt die Initiative «links-extrem». Doch ist die Idee der Erbschaftssteuer gar nicht sonderlich links, sondern auch eine liberale.
Das Wirtschaftsmagazin «The Economist» widmet 2017 der Erbschaftssteuer einen wohlwollenden Artikel und beruft sich auf liberale Vordenker wie John Stuart Mill, der bereits 1848 für eine Abgabe auf Erbschaften einstand. Bereits er sah «eine Begrenzung des Betrags, den eine Person durch Schenkung oder Erbschaft erwerben darf, um eine moderate Unabhängigkeit zu gewährleisten» vor.
Konkret forderte Mill, dass alles, was über diesem Betrag liegt, zu 100 Prozent versteuert werden soll. Dagegen klingt die Juso-Initiative nicht besonders radikal.
Vererbte Ungleichheit
Die Vermögenselite der Schweiz hat den grössten Teil ihrer Vermögen geerbt. Das zeigt eine Studie der Ökonomen Isabel Martinez und Enea Baselgia, welche die Vermögen der 300 Reichsten in der Schweiz analysiert und offenlegt. Der Anteil der Super-Reichen, die durch Erbschaften an ihr Vermögen kamen, liegt demnach im gesamten Zeitraum von 1989 bis 2020 immer zwischen 60 und 80 Prozent.
Die Studie basiert auf der jährlich erscheinenden Liste des Wirtschaftsmagazins «Bilanz». Darin lässt sich gut erkennen, wie sich die Vermögensungleichheit seit 1989 zugespitzt hat. Während 1989, bei der ersten Publikation der Liste, das Gesamtvermögen der damals 100 Reichsten noch bei 66 Milliarden Franken lag, liegt 2024 das Vermögen der 300 Reichsten bei 830 Milliarden Franken.
Die Studie warnt allerdings davor, dass Reichen-Listen oft zu einer Überschätzung der Vermögensungleichheit führt, während die tatsächlichen Steuerdaten eher zu einer Unterschätzung führen. Ein Blick in die Vermögensdaten des Bundes zeigt ein relativ ähnlich ungleiches Bild – das Vermögen des obersten Prozents hat sich seit 2003 mehr als verdoppelt.
Diese Ungleichheit wird oft unterschätzt, denn die Vermögen der untersten 50 Prozent haben prozentual noch stärker zugenommen als die der Super-Reichen. Es entsteht der Eindruck, als würden alle vom zunehmenden Reichtum profitieren.
Hier ist ein Blick auf die absoluten Zahlen darum umso wichtiger. Während die untersten 50 Prozent, also rund 2,8 der 5,6 Millionen Steuerpflichtigen, ihr Durchschnittsvermögen um etwa 5000 Franken steigern konnten, gewann das oberste Prozent fast 12 Millionen dazu. Die Ungleichheit wird um mehrere Millionen grösser.
In der Schweiz an Vermögen zu kommen gestaltet sich, nicht zuletzt aufgrund der stagnierenden Löhne, als schwierig. Durch die Wichtigkeit von Erbschaften beim Schweizer Reichtum gibt es verglichen mit den USA viel weniger «self-made» Super-Reiche. Während in den USA 70 Prozent der Top-400 Liste von Forbes ihr Vermögen «selbst erwirtschaftet» haben, sind es in der Schweiz nur gerade 40.
Die Sache mit der Familie
Familien haben beim Erben einen Vorteil. Bleibt das Erbe innerhalb der nahen Familie, also bei Partnerinnen und Partnern oder den direkten Nachkommen, obliegt das Erbe in der Mehrheit der Kantone keinen Steuern. Je weiter entfernt der Verwandtschaftsgrad, desto höher fällt die Erbschaftssteuer aus. Rüttelt eine Erbschaftssteuer hier an einer Privatsache?
«Eine Erbschaftssteuer erscheint vielen als staatlicher Eingriff in die Kernfamilie», sagt die Ökonomin Isabel Martinez unlängst im Interview mit watson. Ausserdem bilde diese konservative Sicht auf die Familie die Realität nicht mehr ab, so Martinez weiter. «Viele sind heute kinderlos oder haben andere nahe Beziehungen als die biologische Kernfamilie. Das Steuerrecht bevorteilt aber auch hier die klassische Kernfamilie.»
Mit dem «auch» meint die Ökonomin die Familienunternehmen, die wie die Kernfamilie auch vom Steuersystem bevorteilt sind. Gegnerinnen und Gegner der Initiative berufen sich deshalb oft auch auf Familienunternehmen und warnen vor «Enteignungen» und dem «Verkaufszwang an ausländische Investoren».
Gemäss einem «Rundschau»-Beitrag von Anfang April wären nur rund 0,3 Prozent der Firmen von der Juso-Initiative betroffen. Von den rund 600'000 Firmen in der Schweiz haben 99,7 Prozent weniger als 250 Angestellte und kämen grossmehrheitlich unter der Freigrenze von 50 Millionen Franken zu liegen.
Wenn die SVP also in ihrer Wahlempfehlung von «KMU schützen» redet, meinen sie eben nicht, wie behauptet, die «Handwerksbetriebe» oder die «Gebäudetechnikfirma», sondern die Grosskonzerne, die im Besitz von milliardenschweren Familien-Dynastien sind. Beispielsweise Roche, das grösste Pharmaunternehmen der Welt, die Ems-Gruppe der Familie Blocher oder die vom ehemaligen SVP-Nationalrat Peter Spuhler geführte Stadler Rail.
Genau diese Super-Reichen wurden zu den prominentesten Gegnerinnen und Gegnern der Initiative. Vor über eineinhalb Jahren brachten sie sich bereits in Stellung. So drohte der SVP-Milliardär Peter Spuhler schon im Juli 2024 in der Sonntagszeitung öffentlich mit dem Wegzug, falls die Juso-Initiative angenommen würde. Spuhlers Parteikollegin und Ems-Erbin Magdalena Martullo-Blocher tat es ihm wenige Tage später gleich und liess durchblicken, dass sie über einen «Wegzug ins Ausland» nachdenke.
Die Drohung des Wegzugs
Dass sich vor allem die reichsten der Reichen in den medialen Fokus drängen, liegt auf der Hand. Sie wären am stärksten von einer Erbschaftssteuer betroffen. Und die Gruppe der Betroffenen ist sehr überschaubar.
In der Schweiz verfügen nur etwas mehr als 2800 von den 5,4 Millionen Steuerpflichtigen über ein Vermögen von 50 Millionen Franken oder mehr. Das sind gerade mal 0,051 Prozent. Innerhalb dieser kleinen Gruppe sind dann nochmals zwei Drittel des Gesamtvermögens bei den obersten 20 Prozent konzentriert, sprich bei knapp 300 Super-Reichen.
Nach einer Recherche zu den kantonalen Steuerdaten der WOZ und dem Recherchezentrum «Correctiv» zahlen die 2800 reichsten, regulär besteuerten Personen etwa 3,3 Milliarden Franken Steuern. Doch was bedeutet es nun, wenn ein Milliardär wie Peter Spuhler wegziehen würde?
Die WOZ rechnet vor: Die 81 Super-Reichen, die im Kanton Thurgau leben, bezahlen 62 Millionen Franken Steuern. Spuhler ist unter den reichsten Thurgauerinnen und Thurgauern mit Sicherheit einer der vermögendsten, doch leben noch weitere Milliardäre im Kanton. Die WOZ schätzt, dass Peter Spuhlers Anteil an den 62 Millionen rund 10 Prozent beträgt. Er bezahlt also rund 6,2 Millionen Franken Steuern, was 4,2 Promille der Gesamtsteuereinnahmen des Ostschweizer Kantons entspricht.
In einem grossen Teil der Kantone machen die Einnahmen der Super-Reichen aus Vermögens- und Einkommensteuern weniger als fünf Prozent aus. Am tiefsten ist der Anteil mit 0,9 Prozent in Freiburg, am höchsten im Kanton Zug mit 23,01 Prozent. Allerdings sind die Auswirkungen dennoch real, wenn auch ungewiss.
Marius Brülhart, Ökonomieprofessor der Universität Lausanne, untersuchte im Auftrag des Bundesrats Ende 2024 die möglichen Auswirkungen der Initiative aufgrund bestehender Studien. Das Gutachten schätzt, dass bei einer Annahme durch das Volk 77 bis 93 Prozent des Erbvermögens durch Wegzug ins Ausland wegfallen könnte. Daraus würden Einnahmen beziehungsweise Verluste zwischen 300 Millionen und minus 700 Millionen Franken resultieren.
Doch sieht die Initiative eben auch vor, «Massnahmen zur Verhinderung von Steuervermeidung» einzuführen, wie sie andere Länder bereits kennen. Diese Massnahmen sind, so Brülhart weiter, in seiner Schätzung nicht repräsentiert.
Ebenfalls aus der Rechnung ausgenommen sind hinterzogene Vermögen, die im Moment durch das Bankgeheimnis gedeckt sind, im Todesfall aber öffentlich würden. Oder auch die unbekannten Vermögen der gemäss den Kantonen rund 3900 pauschalbesteuerten ausländischen Personen. Diese müssten im Fall der Annahme der Initiative ebenfalls in die Rechnung einfliessen.
Der Wegzug von Super-Reichen aus der Schweiz hätte wohl auch höhere Steuereinnahmen in den anderen Ländern zufolge. Dies würde, in wirtschaftsliberaler Manier, wiederum den Steuerwettbewerb ankurbeln, indem Konkurrenzstandorte auch ihre Steuern erhöhen könnten. So würde längerfristig ebenfalls der Effekt der Wegzüge gedämpft.
Diesen Aspekten wird in der Auseinandersetzung mit der Erbschaftssteuer derzeit allerdings verschwindend wenig Aufmerksamkeit geschenkt.
Die Einflussnahme der Milliardäre
Die Einflussnahme der Milliardäre auf den Diskurs rund um die Initiative war schon vor eineinhalb Jahren deutlich spürbar. Nebst den öffentlichen Drohungen des Abzugs ihres Kapitals ins Ausland finanzieren die Super-Reichen auch direkt die Nein-Kampagne mit Grossspenden, die zu einem neunfachen des Budgets der Gegenseite geführt hat.
750'000 Franken kommen allein von «Swiss Family Business», der Vereinigung der Familienunternehmen, in deren Verwaltungsrat ein bekannter Name auftaucht: SVP-Milliardärin Magdalena Martullo-Blocher.
Dass es möglich ist, für einige wenige Milliardäre derart starken Einflussnahme auf demokratische Prozesse zu nehmen, ordnet Ökonomin Isabel Martinez gegenüber watson als Problem ein: «Wenn einzelne Personen aufgrund ihres Vermögens – sozusagen als Schwergewicht unter den Steuerzahlenden – so viel Einfluss auf die politische Debatte nehmen, finde ich das demokratiepolitisch problematisch.»
