«Es ist auch egoistisch, Kinder zu bekommen»
Ihr Blog heisst «kinderfrei leben - juhu statt Tabu» – mögen Sie einfach keine Kinder?
Nadine Gloor: Natürlich. Ich hasse Kinder. [lacht] Nein, natürlich nicht! Ich vergleiche es so: Ich habe gerne Elefanten, trotzdem möchte ich keinen bei mir Zuhause haben. Kinderfrei zu bleiben, hat nichts mit Hass zu tun – mehr damit, dass ich kein Bedürfnis habe, mich fortzupflanzen und Kinder zu erziehen. Es ist super, dass es Kinder gibt, es braucht sie in unserer Gesellschaft. Aber das heisst noch lange nicht, dass jeder welche haben muss.
Welches Ziel verfolgen Sie mit Ihrem Engagement?
Mit meinem Blog möchte ich zeigen: Es ist auch okay, wenn du keine Kinder möchtest. Ich selbst wäre im Alter von 20 Jahren froh gewesen, hätte mir das jemand gesagt. Das hätte mir viel Druck genommen.
Wann haben Sie gewusst, dass Sie keine Kinder möchten?
Um die 30 war mir klar, dass ich nicht Mutter werden will. Das auszusprechen, hat mir sehr gutgetan.
Wie sind Sie zu dieser definitiven Entscheidung gekommen?
Man spricht immer von dieser biologischen Uhr, die einem das Gefühl geben wird: «So, jetzt ist es so weit.» Aber dieses Gefühl hat sich bei mir nie eingestellt. Kurz vor 30 begann ich mich zu fragen, ob der Kinderwunsch noch kommen wird. Viele in meinem Umfeld wurden Eltern, mich hat das sehr gestresst. Schon als Teenager verspürte ich den Druck, möglichst viel erleben zu müssen, bevor die Kinder kommen. Das war rückblickend bereits ein Hinweis darauf, dass ich schon immer das Gefühl hatte, mit Kindern das Leben nicht mehr geniessen zu können. Das sollte nicht sein.
Wie müsste es sich aus Ihrer Sicht denn anfühlen, wenn Kinder zu bekommen für einen der «richtige Weg» ist?
Man sollte Kinder haben, wenn es für einen etwas Schönes und Freudiges bedeutet. Es sollte sich nicht nur nach Zwang oder Verzicht anfühlen.
Wie hat Ihr Umfeld auf Ihre Entscheidung reagiert?
Mein nächstes Umfeld hat gut darauf reagiert. Seit ich den Blog führe, muss ich mir aber Vieles anhören. Dass ich meine Entscheidung bereuen werde. Dass mir so entgehe, «wahre Liebe» erleben und empfinden zu können. Manche betiteln mich auch als Sozialschmarotzerin. Das Heftigste, was jemand zu mir und meinem Mann einmal gesagt hat, war: «Ihr werdet alleine sterben!»
Lässt Sie das völlig kalt?
Ich bin gefestigt im Thema. Ich weiss, was ich will und kenne meine Argumente.
Die wären?
Vielleicht werde ich mit 70 Jahren tatsächlich denken, dass es doch schön wäre, ein paar Enkel zu haben. Vielleicht aber auch nicht. So ist es mit allen Entscheidungen: Zu 100 Prozent kann man sich im Vornherein nie sicher sein. Im Bezug auf meinen Beitrag zu unseren Sozialsystemen sehe ich es so: Mein Partner und ich bezahlen Steuern – damit werden unter anderem Schulen und Kinderspielplätze bezahlt. Und das ist auch gut so.
Kinderfreien wird oft Egoismus vorgeworfen. Was kontern Sie darauf jeweils?
Es ist auch egoistisch, Kinder zu bekommen. Niemand bekommt Kinder, damit diese in unser Rentensystem einzahlen. Menschen bekommen Kinder, um sich einen Lebenswunsch zu erfüllen.
Der kinderfreie Lebensentwurf scheint immer mehr Anklang zu finden. Fast ein Fünftel der Menschen in ihren 20ern gibt an, keine Kinder zu wollen. Wie erklären Sie sich diese Zunahme?
In der heutigen Generation hat man mehr Möglichkeiten, das traditionelle Familienmodell überhaupt zu hinterfragen. In meinem persönlichen Umfeld bin ich als Kinderfreie aber in der absoluten Minderheit. Vielleicht trauen sich die Leute heute auch mehr, darüber zu sprechen.
Die Sozialsysteme wie die AHV funktionieren nur dank einem Generationenvertrag. Wie soll dieses System mit einer so tiefen Geburtenrate weiterbestehen?
Die AHV gibt es seit 1948. Vielleicht braucht es ein System, das zur heutigen Ausgangslage einer sinkenden Geburtenrate passt, das nicht mehr nur bei hohen Geburtenraten funktioniert. Man kann mich doch nicht zwingen, fürs Rentensystem ein Kind zu bekommen. Dann sind wir bald bei «Handmaid's Tale». Ausserdem ist es merkwürdig, dass diese Anforderung oft nur an Frauen gestellt wird.
Wie meinen Sie das?
Dass viele Frauen keine Kinder bekommen möchten, liegt vielleicht auch daran, dass Männer es in den letzten Jahren ein bisschen verkackt haben, gute Väter zu sein. Es gibt viele in der kinderfreien Community, die sagen: «Mutter will ich nicht sein. Vater zu sein fände ich hingegen in Ordnung.»
Gilt das auch für Sie?
Nein. Aber wenn ich ein Kind haben müsste, dann lieber in der Rolle des Vaters als in jener der Mutter.
Wie sieht das Geschlechterverhältnis in Ihrer kinderfreien Community aus?
Die Mehrheit sind Frauen. Schwangerschaft und Geburt beeinflussen das Leben einer Frau viel stärker als das der Männer. Das macht die Frage, ob man kinderfrei leben möchte oder nicht, etwas mehr zu einer Frauenfrage.
