Experte widerspricht Spuhler: «Verstehe nicht, warum er sich so aufregt»
Die SBB haben die Weichen falsch gestellt. So die allgemeine Meinung in der Schweizer Politik über den Entscheid der Bundesbahnen, 116 neue Doppelstockzüge beim deutschen Hersteller Siemens zu bestellen. Und nicht beim Schweizer Unternehmen Stadler Rail. Der Zugbauer aus der Ostschweiz hatte sich ebenfalls um den Auftrag beworben. Geplant ist der Einsatz der neuen Siemens-Regionalzüge in den 2030er-Jahren.
Seither ist eine Diskussion entfacht: Hätten die SBB den Schweizer Hersteller bevorzugen müssen?
Der Nationalrat und frühere Mitte-Präsident Gerhard Pfister ärgerte sich auf X: «Wie dumm muss man sein, um ein Schweizer Vorzeige-Unternehmen wie Stadler wegen minimaler Preisdifferenz nicht zu beauftragen?» SVP-Nationalrat Thomas Burgherr will vom Bundesrat wissen, ob die SBB bei der Ausschreibung die Interessen und die Arbeitsplatzsituation in der Schweiz berücksichtigt hätten.
Peter Spuhler, Verwaltungsrats-Präsident von Stadler Rail, sprach in einem Interview mit der «Sonntagszeitung» von einem Fehlentscheid. Er sei «sehr enttäuscht» von den SBB – insbesondere weil diese Stadler Rail bei verschiedenen Kriterien zu tief bewertet hätten.
watson hat mit einem Spezialisten für Vergaberecht und einem Eisenbahnexperten gesprochen. Wie viel Spielraum hatten die SBB bei ihrer Entscheidung? Darf ein Schweizer Unternehmen gegenüber einem ausländischen bevorzugt werden? Und: Was taugt der Zug von Siemens?
Der Vergabejurist
«Die aktuelle Diskussion zeigt, dass einige Schweizer Politiker von den Prinzipien des Vergaberechts wenig Ahnung haben», sagt einer der führenden Anwälte für Vergaberecht gegenüber watson. Er äussert sich nur anonym, aus einem einfachen Grund: Legt Stadler wirklich Beschwerde ein, kann es sein, dass das Dossier auf seinem Tisch landet.
Der Jurist erklärt: Überschreitet ein Auftrag des Bundes einen gewissen Betrag, muss er öffentlich ausgeschrieben werden. Der Sinn hinter öffentlichen Ausschreibungen ist es, Wettbewerb und möglichst faire Voraussetzungen für die Anbieterinnen zu schaffen. Denn der Staat an sich hat keinen direkten Anreiz, das günstigste Angebot zu wählen, da er anders als ein Unternehmen kein eigenes, sondern Steuergeld ausgibt.
Die Schweiz hat sich mit internationalen Verträgen dazu verpflichtet, bei öffentlichen Ausschreibungen auch Aufträge aus dem Ausland entgegenzunehmen. Schweizer Unternehmen geniessen umgekehrt das gleiche Recht im Ausland. Der Jurist dazu:
In einer Medienmitteilung nennen die SBB Investitionskosten, Betriebsaufwand, Erfüllung der Lastenhefte, Qualität und Serviceverträge als Kriterien. Wie diese gewichtet wurden, kommunizieren die Bundesbahnen nicht. Als Vergabestelle hätten sie die Vertraulichkeit im Ausschreibungsverfahren einzuhalten.
Entscheidend bei der Vergabe eines öffentlichen Auftrags sind die Zuschlagskriterien. Damit legten die SBB fest, welche Kriterien sie bei den neuen Zügen wie gewichten. Sie mussten den Teilnehmern der Ausschreibung, also auch Siemens und Stadler, bei der Ausschreibung transparent gemacht werden.
Solange diese Kriterien nicht öffentlich sind, kann über den Entscheid nur gemutmasst werden. Hinzu kommt, dass Vergabestellen ausser beim Preis oft einen Ermessensspielraum haben und Gerichte zurückhaltend sind, in dieses Ermessen einzugreifen. Der Anwalt für Vergaberecht kann sich kaum vorstellen, dass die SBB, die jahrzehntelange Erfahrungen mit öffentlichen Ausschreibungen haben, gravierende Fehler bei der Anwendung der Zuschlagskriterien begangen haben.
Heisst konkret: Wenn Peter Spuhler sich darüber beklagt, dass bei der Vergabe zu wenig beurteilt wurde, dass er in der teuren Schweiz produzieren muss, müsste man zuerst wissen: War das unterschiedliche Preisniveau überhaupt ein Kriterium? Das Gleiche gilt, wenn Spuhler moniert, dass nicht berücksichtigt wurde, dass es seine Züge bereits gibt, während die der Gewinnerin Siemens erst als Konzept existierten. Der Vergabespezialist sagt:
Der Eisenbahnexperte
Walter von Andrian ist Chefredakteur der Schweizer Eisenbahn-Revue. Er widerspricht Spuhler darin, dass der Siegerzug von Siemens erst als Konzept existiere. «Laut SBB stammt er aus einer Plattform, die seit mehreren Jahren im Einsatz und erprobt ist», sagt von Andrian – in Deutschland, Israel und Ägypten
Das bedeutet: Siemens hat schon etwa 300 Züge ausgeliefert, auf deren technischem Grundgerüst auch die Schweizer Regionalzüge fussen werden. «Ich habe kein Verständnis dafür, dass sich Peter Spuhler jetzt so aufregt», sagt von Andrian.
Es gebe in der Schweiz eine Tendenz zum Schwarz-Weiss-Denken. «Stadler Rail und Peter Spuhler sind die Guten, die Konkurrenten die Bösen», sagt von Andrian. So einfach sei das aber nicht.“ Nicht nur Stadler Rail beschäftige Mitarbeiter in der Schweiz. Auch Siemens sei ein wichtiger Arbeitgeber.
Siemens beschäftigt in der Schweiz 5950 Mitarbeitende, Stadler gut 5600.
Allerdings: Die Siemens-Mitarbeitenden sind in verschiedenen Branchen angestellt, wohingegen bei Stadler alle Mitarbeitenden direkt oder indirekt Züge fertigen. Siemens wird die Regionalzüge für die Schweiz im deutschen Krefeld bauen.
Das sagt Stadler Rail
Die beiden Experten zeichnen ein Bild, wonach der Zuschlag an Siemens unproblematisch war. Warum also prüft Stadler Rail trotzdem eine Beschwerde? Gegenüber watson betont Mediensprecher Jürg Grob die Preisdifferenz von nur 0,6 Prozent zwischen den Angeboten von Stadler Rail und Siemens:
Stadler nennt ein konkretes Beispiel: Beim Kriterium Nachhaltigkeit sei Stadler tiefer bewertet worden als die Konkurrentin Siemens. «Das, obwohl wir den Zug in der Schweiz produzieren und beispielsweise unsere Aluminium-Profile aus dem Wallis kommen», sagt Grob.
Grob stellt klar: Stadler wolle keinen Heimatschutz, sondern stehe zum internationalen Wettbewerb. Es ist ein Wettbewerb, von dem Stadler profitiert – zuletzt am Dienstag. Stadler erhielt den Zuschlag, 200 Hybridlokomotiven für das luxemburgische Unternehmen Nexrail zu bauen. Dieses ist auf das Leasing von Lokomotiven spezialisiert. Stadler wird die Loks im spanischen Valencia bauen.
Die Diskussion um die Zugvergabe zeigt ein grundsätzliches Problem auf. Ein Schweizer Unternehmen wird womöglich unter anderem aus Preisgründen bei einem öffentlichen Auftrag nicht berücksichtigt. Will man das ändern, müsste man dafür das Bundesgesetz über die öffentliche Beschaffung ändern. Und würde riskieren, damit internationale Abkommen zu verletzen. Das ist dann keine technische Frage mehr. Sondern eine politische.
