Bild: Keystone
Briefe von der Heimatfront
23.05.2014, 16:5816.06.2014, 11:53
Vor wenigen Stunden hat der deutsche Bundesrat eine Sonderverordnung von
Bundesumweltministerin Hendricks (SPD) bestätigt. Diese erlaubt den Gemeinden, fürs
Public Viewing bestimmte Flächen auch dann zu nutzen, wenn eigentlich die gesetzlichen
Lärmschutzzeiten gelten müssten.
Der Hintergrund: Bei der Fussball-WM in Brasilien wird
knapp die Hälfte aller Spiele erst nach 22 Uhr ausgestrahlt, zehn davon sogar erst nach
Mitternacht. Erstmals hat damit die Bundesregierung die Versorgung der Nation mit Fussball
zu einem öffentlichen Gut erklärt, vergleichbar dem Recht auf Russen-Gas, einen Kita-Platz und Markus-Lanz-Sendungen.
Gleichzeitig wird der ruhebedürftige Fussballmuffel
zum Schildbürger zweiter Klasse, ähnlich überführten Straftätern, Rumänen oder Markus
Lanz. Vor dem Gesetz sind alle gleich, schon klar – aber es geht immerhin um FUSSBALL!
Ausnahmsweise hat es die Schweiz mal nicht besser: So wird etwa in Basel die Polizeistunde
für die WM gleich ganz abgeschafft, damit man auch um vier Uhr nachts die spannenden
Wiederholungen sehen oder mit Freunden in Ruhe die Stadt verwüsten kann.
Die Änderung der Lärmschutzverordnung zugunsten des albernen Kinderspiels sind
allerdings erst der Anfang einer Reihe weitreichender Gesetzesänderungen. watson liegen
Entwürfe aus dem deutschen Innenministerium zu einem neuen Weltmeistergesetz (WmG)
vor:
- Schüler, die übermüdet zum Unterricht kommen, weil sie die ganze Nacht Fussball
gucken mussten, erhalten bei wichtigen Klassenarbeiten automatisch einen Aufschlag
von zwei Noten (Bescheinigung der betrunkenen Eltern). Streber und Ausländer ohne
Fussballhintergrund, die nach wichtigen Spielen verdächtig munter sind, dienen beim
Sportunterricht als menschliche Torwand.
- Fussball schützt vor Strafe nicht – der Fall Hoeness hat's gezeigt! Allerdings geniessen
besonders korrupte Berufsgruppen wie Trainer, Spieler, Spielerfrauen, Schiris,
Schirigeliebte, FIFA-Präsidenten, Zahnärzte und Klempner für die Dauer der WM
Amnestie. Sämtliche Delikte werden nach der WM verhandelt, wenn auch die Richter
endlich wieder den Kopf frei haben für so was.
- Auch die Bundesregierung nimmt sich Sonderrechte heraus: Die parlamentarischen
Öffnungszeiten werden für die WM verlängert, damit besonders unangenehme
Gesetze auf sogenannten Nachtsitzungen durchgepeitscht werden können, wenn
eh alle Fussball gucken. Mit einer freiwilligen Selbstverpflichtung erklärt die Presse,
die so entstandenen Gesetze ebenfalls erst nach der WM zu kommentieren, dann
allerdings mit ausgesucht selbstgerechten Kommentaren: «Hier wird das Schandgesetz
verabschiedet – während alle Fussball gucken!»
- Die GEMA zeigt sich ebenfalls grosszügig: In der Zeit zwischen den Spielen werden
sämtliche YouTube-Videos freigeschaltet, die bisher in Deutschland gesperrt waren –
auch das eine mit der nackten Miley Cyrus. Dies gilt allerdings nur für Fussballfans,
die nachgewiesenermassen mindestens ein Weltmeisterbrötchen beim Bäcker gekauft
haben. Für alle anderen IPs ruht das Internet, damit das deutsche Fernsehen genügend
Bandbreite für die technisch wahnsinnig aufwendigen WM-Livestreams hat.
- Die Tatbestände von Mord und Totschlag werden aufgrund der besonders emotionalen
Lage während der WM eingeschränkt. Wer einen Diskussionspartner im Streit
tötet, kommt zunächst mit einer Verwarnung davon, sofern die WM oder WM-nahe Ereignisse Streitgegenstand waren. Der Beklagte muss allerdings nachweisen, dass ihm
sein Standpunkt ein echtes Herzensanliegen und «auch persönlich voll wichtig» war und entsprechende Fan-Bekundungen auf Facebook und Twitter nachweisen. Nach
drei Verwarnungen wird der Mörder/Totschläger zum Abkühlen auf die Ersatzbank
geschickt.
Übrigens: Es genügt nicht, auf dem Passbild die Nationalfarben im Gesicht zu tragen;
mindestens ein T-Shirt und ein Autowimpel sind Vorraussetzung, um in den Genuss der
Sondergesetze zu kommen.
Leo Fischer
Der ehemalige Chefredaktor vom Satiremagazin «Titanic» schreibt jede Woche einen «Brief von der Heimatfront». Er liefert den deutschen Invasoren in der Schweiz Schlachtpläne, wie sie die deutsche Dominanz in den Universitäten oder dem Gesundheitswesen noch stärker durchsetzen und festigen können. Er wird aber auch seinen Landsleuten mit ordentlich Humor grob aufs Dach hauen.
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