Kinder, Jugendliche und junge Menschen leiden am stärksten unter den Folgen der Pandemie – diese Erkenntnis ist unbestritten. Vor allem bei Frauen hat sich der psychische Zustand verschlechtert, wie zahlreiche Umfragen belegen. Doch die neuste CSS Gesundheitsstudie wirft das Schlaglicht auch auf eine Gruppe, deren psychische Gesundheit bisher kaum thematisiert wurde: Ganze 10 Prozent der jungen Männer zwischen 18 und 30 Jahren gaben an, dass es ihnen schlecht geht. Dieser hohe Wert überrascht, denn gerade Männer sind tendenziell zurückhaltend, wenn sie ihren eigenen psychischen Zustand einschätzen.
Das heisst aber nicht, dass es Ihnen tatsächlich besser geht als den Frauen; sie tendieren vielmehr dazu, ihre Sorgen und Ängste kleinzureden oder gar zu negieren – alte Rollenbilder sind noch immer wirkmächtig. Warum ausgerechnet die CSS Gesundheitsstudie ein anderes und somit vermutlich differenzierteres Bild liefert, kann nur vermutet werden. Eine Rolle dürfte die Fragestellung gespielt haben: «Wie gut geht es Ihnen emotional bzw. psychisch»? Der Fokus auf «emotional» generiert andere Antworten als der blosse Fokus auf «psychisch», da psychische Erkrankungen nach wie vor stigmatisiert werden.
Eine ähnliche Erfahrung machte jedenfalls die BBC in ihrem «Loneliness Experiment»: Es stellte sich heraus, dass sich Männer über alle Altersgruppen hinweg einsamer fühlen als Frauen. Weil sich dies nicht mit bisherigen anderen Umfragen deckte, hatten die Forschenden die Erklärung schnell zur Hand: Männer würden häufiger stigmatisiert, wenn sie zugeben, dass sie sich einsam fühlen – also würden sie es eben nicht tun, im Alltag genauso wenig wie in Umfragen. Der Clou in der BBC-Umfrage: Es wurde schlicht auf das Wort «einsam» verzichtet und das Gefühl anders erfragt. Dann zeigt sich eben, dass Männer häufiger als Frauen unter Einsamkeit leiden.
Doch warum sind es ganze 10 Prozent der jungen Männer zwischen 18 und 30 Jahren, die angeben, dass es Ihnen schlecht geht? Alain Di Gallo, Direktor der Klinik für Kinder und Jugendliche der Universitären psychiatrischen Kliniken Basel, weiss aus der Praxis, dass Männer mitnichten weniger leiden als Frauen. Er beobachtet, dass sich gerade bei jungen Männern psychische Probleme oft anders bemerkbar machen: «Sie neigen dazu, ihre emotionalen Probleme mehr zu externalisieren, sie sind angespannter, unruhiger und aggressiver», so der Kinder- und Jugendpsychiater. Dieser Umgang mit den eigenen Schwierigkeiten, der einer Verdrängung gleichkommt, setze aber eine negative Spirale nach unten in Gang. «Es ist wichtig, dass wir hier als Gesellschaft genau hinschauen. Junge Männer sind mit ihren psychischen Leiden lange nicht sichtbar, da passiert vieles im Versteckten», so Alain Di Gallo.
Die Corona-Pandemie ist dabei nicht etwa der Auslöser – sie hat vielmehr eine Entwicklung beschleunigt, die Psychiaterinnen und Psychologen bereits seit 2010 beobachten. Das sind unter anderem die Ursachen.
Alain Di Gallo, der auch Co-Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie ist, betont den Leistungsdruck, dem junge Menschen zunehmend ausgesetzt sind. «Der Zeitplan ist eng getaktet, viele wollen etwas repräsentieren und ständig erreichbar sein. Das ist eine enorme Stressbelastung.» Das deckt sich mit den Erkenntnissen der CSS Gesundheitsstudie: Fast 60 Prozent der 18- bis 30-Jährigen stufen den beruflichen Stress als besonders gesundheitsschädigend ein – mehr noch als Bewegungsmangel (32 Prozent) oder das Essverhalten (36 Prozent). Unter diesen Umständen besonders gefährdet sind laut dem Psychiater vor allem jene jungen Erwachsenen, die eher scheu und zurückhaltend sind und aus schwierigen Verhältnissen stammen. «Bei ihnen braucht es in einer Krise nicht viel, bis sie sich abschotten und allenfalls sogar ihre Schule oder die Weiterbildung abbrechen oder den Job aufgeben.»
Eine weitere Ursache sind paradoxerweise die Freiheiten, die sich den jungen Menschen heute präsentieren – bis hin zur Freiheit, seine eigene Identität immer wieder neu zu kreieren und sich neu zu erfinden. Das lässt viele junge Menschen haltlos zurück. Hinzu kommt: «Trotz der vielen Freiheiten ist der Normierungsdruck hoch. Heute fällt jemand, der irgendwo dazugehören will, schnell aus dem Raster», erklärt Di Gallo.
Markus Theunert, Fachmann für Männer- und Geschlechterfragen und ausgebildeter Psychologe, betont die schwierige Suche nach der Frage, wer man eigentlich ist. Eine Suche, die sich für junge Männer besonders schwierig gestaltet. «Das junge Erwachsenenalter ist klassischerweise die Phase, in der man seinen Platz in der Gesellschaft finden muss. Für junge Männer heisst das, dass sie lernen müssen, sich in einem grossen Spannungsfeld zu bewegen: zwischen dem, was man gelernt hat, wie sich ein ‹richtiger Mann› zu verhalten habe und dem, wie man selbst ist. Das ist ein anspruchsvoller Prozess.»
Männer sind widersprüchlichen Erwartungen ausgesetzt: Heute müsse ein Mann ein fürsorglicher und engagierter Vater, ein sozialkompetenter Gesprächspartner, ein einfühlsamer Liebhaber und ein Teamplayer sein. Diese Anforderungen hätten aber die alte Männlichkeitsnorm des leistungsstarken Ernährers nicht abgelöst. «Sie existieren nebeneinander – und stehen zum Teil in direkter Konkurrenz zueinander. Aber das wird in der breiten Öffentlichkeit kaum thematisiert», so Markus Theunert, Gesamtleiter von männer.ch, dem Dachverband progressiver Schweizer Männer- und Väterorganisationen. Die beiden konkurrenzierenden Männerbilder spielen auch beim Burnout-Risiko mit. «Junge Väter zum Beispiel nehmen sich vor, anders Vater zu sein, als sie es als Kind bei ihrem Vater erlebt hatten. Aber die Ernährer-Verantwortung wollen sie trotzdem tragen. Diese Mischung aus neuem und alten Mindset bedeutet natürlich Stress.»
Vor diesem Hintergrund sinkt laut Theunert besonders für junge Männer das Vertrauen in die Versprechen, die mit dem patriarchalen Spätkapitalismus einhergehen. «Immer mehr Männer glauben nicht mehr daran, dass sie alles erreichen können. Dass ihnen eine grosse Karriere offensteht und dass sie beim Werben um attraktive Frauen eine Chance haben. Sie haben das Gefühl, nicht mehr mithalten zu können und hängen ab.»
Ähnliche Beobachtungen macht der Kinder- und Jugendpsychiater Di Gallo. «Die Voraussetzungen für gewisse Jobs werden immer anspruchsvoller, zugleich wird in der Schweiz gerne die Durchlässigkeit des Systems betont. Das erweckt den Eindruck, als führe der Weg permanent nach oben. Aber in der heutigen Zeit sind Abstieg- und Zukunftsängste weit verbreitet.» Auch die Studie stützt diese Überlegungen. Auffällig häufig nennen vor allem junge Erwachsene zwischen 18 und 30 Jahren fehlende Perspektiven als belastende Faktoren für die eigene Gesundheit.
Bei allem Betonen von gesellschaftlichen Einflüssen auf die psychische Gesundheit ist wichtig festzuhalten: Psychische Erkrankungen sind selten nur auf eine Ursache zurückzuführen und können auch genetisch bedingt sein. «Oft spielen die Herkunft oder Prägungen eine Rolle: Wenn zum Beispiel in einer Familie bereits jemand unter Depressionen leidet, ist das Risiko höher. Das gilt auch bei schmerzhaften Erfahrungen wie Trennungen, Missbrauch oder Gewalt. Und natürlich können auch aktuelle Belastungen wie Mobbingerlebnisse oder Familienkrisen psychische Probleme auslösen oder verstärken», so Di Gallo.
Wer einfach ab und zu einen Durchhänger oder heftige Gefühlsschwankungen hat, braucht sich noch nicht zu sorgen – das gehört gerade in jungen Jahren dazu. Typische Symptome für eine Depression beispielsweise seien eine traurige Stimmung, die über längere Zeit anhält, der Verlust von Freude und Interesse sowie eine grosse Antriebslosigkeit. Bei Angststörungen sind die Angstgefühle sehr ausgeprägt und beeinträchtigen die Lebensqualität und den Alltag der Betroffenen stark. Hier ist Vorsicht geboten.
Die Webseite von «Wie geht’s dir», einer Kampagne der Gesundheitsförderung Schweiz, bietet einen guten Überblick über die verschiedenen Hilfsangebote. Hier kann spezifisch nach Kinder- und JugendpsychiaterInnen und -psychotherapeutInnen gesucht werden, bzw. hier nach Erwachsenenpsychiaterinnen und Psychotherapeuten.
Dabei wäre es extrem aufbauend.
Der Unterschied liegt darin, dass man die Probleme jetzt wahrnimmt. Früher hiess es einfach: Zähne zusammenbeissen und 'sei ein Mann'.
Dass sich die Sichtweise heute ändert, ist gut.