Liebe Paula
Was Sie mir da schildern, passiert fast jeder Frau einmal in ihrem Berufsleben. Mir bereits in der Berufsbildung zwei Mal. Ich war 16 und in der KV-Lehre. Das eine Mal hat mir der Chauffeur des Konzernchefs der von Roll an den Busen gefasst und versucht mich zu küssen. Im Lift. Und das zweite Mal war es mein direkter Lehrlingschef, der mir, am Kopierer stehend, beim Vorbeigehen an den Arsch tatschte. Ich habe beide Vorkommnisse gemeldet, passiert ist in beiden Fällen gar nichts.
Ein Jahr später hat man mir nahegelegt, den Lehrbetrieb fürs letzte Jahr doch zu wechseln. Die Gründe dafür waren nichtig.
Aber das war 1991 und den Begriff «sexual harassment» gab es damals noch nicht. Also es gab ihn natürlich schon, aber nicht bei uns. Es war kein Thema. Auszubildende waren eine Art Freiwild, weil sie sich nicht wehrten. Alle Mädchen in meiner KV-Klasse, die im gleichen Betrieb ihre Lehre machten, hatten ähnliche Geschichten zu erzählen. Gemeldet hat es keine Einzige. Ausser mir.
Das ist heute glücklicherweise anders, liebe Paula. Heute ist die Gesellschaft viel sensibilisierter auf dieses Thema. Die sozialen Medien tun das ihre dafür. Was zu meiner Zeit ein privates Schicksal war, kann man heute innert 5 Minuten einem breiten Publikum zugänglich machen. Das erhöht den Druck auf solche Themen. Und das ist auch richtig so.
Was Ihr Kollege da von sich gegeben hat, ist eine sehr explizite sexuelle Belästigung. Dafür muss er Ihnen nicht erst seinen Schwengel vors Gesicht halten. Es reicht gänzlich, wenn er darüber redet und Sie in eine Situation wie diese bringt. Dass Sie nichts dazu gesagt haben, spielt keine Rolle.
Ich weiss nicht, ob ich etwas hätte sagen können. Dieser Satz berührt eine Frau dermassen peinlich und empfindlich, da blockiert der Zugang zum Sprachzentrum gern für eine Weile. Das ist ganz normal. Es ist auch gar nicht an Ihnen, irgendwie schlagfertig darauf zu reagieren. Das ist nicht Ihre Aufgabe. Ihre Aufgabe ist es, dort Ihren Job in Ruhe zu machen. Unbehelligt von solcher Scheisse.
Ich kann sehr gut nachfühlen, was in Ihnen jetzt vorgeht. So ein Übergriff lässt einen sehr sprachlos zurück und berührt an einem Punkt, von dem man zuvor gar nicht wusste, dass man ihn hat.
Nehmen Sie sich und die Sache bitte ernst und melden Sie es. Es ist ganz klar ein sexueller Übergriff, der überhaupt nicht geht. Wenn Sie darüber hinwegsehen – aus welchen Gründen auch immer – dann haben Sie jeglichen Respekt dieses Arschlochs verloren. Er wird es mit ziemlicher Sicherheit nicht dabei belassen. Und Sie werden mit ziemlicher Sicherheit nicht die einzige Frau sein, die er so angeht.
Stehen Sie auf, liebe Paula. Klopfen Sie an die Tür der Personalabteilung und melden Sie den Vorfall noch heute. Wenn wir Frauen aus Angst um unser Ansehen oder um unseren Arbeitsplatz den Mund halten, dann wird sich nie etwas ändern. Die Arbeitgeber formulieren heute sehr scharfe Regeln im Umgang mit sexual harassment. Diese Regeln dürfen keine Bleiwüste sein, die im Alltag keine Anwendung findet. Ihre Grenzen wurden massiv verletzt und überschritten. Dafür muss man Sie nicht anfassen. Es reicht, wenn man es verbal tut.
Melden Sie es. Sie werden angehört werden. Kein Arbeitgeber kann es sich heutzutage noch leisten, so einen Vorfall still ad acta zu legen. Da Sie mir mit Ihrem Business-Account geschrieben haben, kenne ich die Unternehmung, für die Sie arbeiten. Diese legt sehr viel Wert auf Umgangsformen und Renommee. Zumindest nach aussen, im Umgang mit der Kundschaft. Sie kann es sich nicht leisten, einen Mitarbeiter, wie der von Ihnen beschriebene, länger auf der Lohnliste zu führen.
Mit herzlichem Gruss. Ihre Kafi Freitag.