Istanbul – was für eine Stadt! Die türkische Millionenmetropole verbindet nicht nur geografisch Asien und Europa, hier treffen auch kulturell Welten aufeinander: In Istanbul leben konservative, strengreligiöse Muslime zusammen mit jungen, westlich orientierten Türken. Manchmal sind sie ein Stadtviertel voneinander entfernt, manchmal eine Strasse – meist aber sind sie bunt durchmischt.
Welches Weltbild in den über 14 Millionen Istanbuler Köpfen vorherrscht, kann ich von aussen unmöglich beurteilen. Einer der einzigen Anhaltspunkte sind die Kleider der Frauen – und da reicht das Spektrum vom Mini-Rock, der knapp den Allerwertesten bedeckt, bis zum MiniSchlitz, der knapp die Augen freilässt.
Spannend sind aber nicht unbedingt diese Extreme, denn sie sind beide eher selten anzutreffen. Spannend sind vor allem die unzähligen Schattierungen und scheinbaren Widersprüche dazwischen: Ich muss zum Beispiel über eine Frau schmunzeln, von der nur die Augen zu sehen sind, die aber trotzdem ein Selfie vor der Hagia Sophia macht.
Oder ich beobachte ein verträumt flanierendes Liebespaar, das zärtlich Händchen hält, während die Frau die Sonne im Gesicht nur durch einen schwarzen Stoff hindurch spüren kann.
Dann begegne ich wiederum Frauen, die ihr schickes Kopftuch mit einem solchen Selbstbewusstsein tragen, dass sie emanzipierter wirken, als viele Frauen mit freien Haaren. Und wenn sie dazu noch hohe Schuhe anhaben und genüsslich an einer Zigarette ziehen, verzweifele ich vollkommen beim Versuch einer Einordnung.
In einigen Stadtvierteln Istanbuls treffe ich in Bars und Clubs zudem auf Frauen, für die Religion und Tradition gar keine Rolle mehr zu spielen scheint: Sie rauchen, trinken, tanzen bis in die frühen Morgenstunden und stehen ihren Altergenossinnen in Westeuropa in Nichts nach.
Das Schöne an dieser Vielfalt: Das Zusammenleben scheint reibungslos zu funktionieren. Frauen mit Kopftuch gehen Arm in Arm mit Frauen, die kein Kopftuch tragen.
Ob Burka, Bier oder Mini-Rock – als männlicher Tourist habe ich das Gefühl, dass sich in Istanbul niemand um diese Unterschiede kümmert.
Doch der Eindruck täuscht, sagt mir Alev. Die 27-Jährige, die Bier der Burka vorzieht, stellt fest, dass die Toleranz in den konservativen Quartieren abnimmt: «In einigen Stadtvierteln kann es heutzutage vorkommen, dass man als Frau böse Blicke erntet oder gar beschimpft wird, wenn man knapp bekleidet ist.»
Auch ein Pärchen, das sich in der Öffentlichkeit küsst, müsse unter Umständen mit Misstönen rechnen. Die freie Journalistin macht dafür nicht zuletzt den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan verantwortlich: «Erdogan fördert dieses religiös-konservative Bild der Frau.»
Wie sich verschleierte Frauen in Stadtvierteln fühlen, die vorwiegend von westlich orientierten Türken bewohnt werden, erfahre ich nicht. Beim Besuch von Çarşamba, dem wohl konservativsten Quartier Istanbuls, ergibt sich kein Gespräch mit Frauen. Ich fühle mich so unwohl und beobachtet, dass ich es nicht einmal wage, meine Kamera hervorzuholen, geschweige denn, eine der Verhüllten anzusprechen.