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Yonnihof
Oder: Warum ich den Schweizer ÖV ab sofort liebe.
14.07.2015, 18:1227.07.2015, 08:39
Bereits zum zweiten Mal verbringe ich nun einen ganzen Monat in London. Dieses Mal entspricht auch das Wetter viel eher den Erwartungen, denn im April, als ich das letzte Mal hier war, sah ich keinen einzigen Regentropfen und konnte beinahe zuschauen, wie die Leute immer misstrauischer wurden.
Heute aber regnet’s. Und auch gestern regnete es. Und das ist vollkommen in Ordnung.
Einer der grossen Unterschiede zwischen dem Alltag in London und dem in Zürich ist, dass die Leute sich hier vom Wetter nicht die Laune vermiesen lassen. In Zürich ist’s (und dazu leiste auch ich meinen Beitrag) bei Regen immer ein bisschen hektischer, launischer, mauliger.
Generell ist der Londoner (schliesst weibliche Form mit ein) ein sehr zuvorkommender Mensch. Zumindest so, wie ich das erlebe. Natürlich gibt’s auch hier Ausnahmen, aber jemand, der mit einer Karte auf der Strasse steht und unsicher um sich schaut, hat innert Sekunden einen Londoner an der Seite, der fragt, ob man verloren sei und ob er helfen könne. Beobachte ich in der Schweiz kaum. Dasselbe mit schweren Taschen, die einem in Kürze die Treppen hoch oder runter getragen werden. Dazu kommt das in meinen Augen sehr liebliche «Love» oder «Mate», wenn man angesprochen wird. Mir gefällt das sehr.
Kurzum: Für die Tatsache, dass man sich in einer Weltmetropole befindet, sind die Menschen äusserst zuvorkommend.
Man könnte meinen, dass es hier eine Art Friedenselixir im Wasser hat ...
Bis man zur Rushhour eine Tube-Station betritt. Dann ist Ende Feuer mit britischer Gentlemanry. Holy mother of Rambo Nation!
Ich weiss nicht, ob’s dort unten zu gewissen Tageszeiten irgendwelche Gase gibt, die den Leuten den Schalter im Hirn von «nett» auf «KILL» legen, aber die Menschen werden zu einer Art tollwütiger Tiere. In Tweed und High Heels zwar, aber Tiere sind’s trotzdem.
Ernsthaft, ich hab’s mehrfach überprüft. Und es ist nicht die Art Aggression, die wir hier in der Schweiz im vollgestopften Tram um halb sechs erleben, wo dem einen oder der anderen mal ein «Chönd Sie d’Lüt nöd zerst uusstiege lah??» entfleucht.
Nein, in London ist’s eine Art Nahkampf. «GO AWAY OR I’LL KILL ALL OF YOU BASTARDS!»
Gestern fuhr ich um 18.00 Uhr von «meiner» Station, Liverpool Street, zum Hyde Park. Schon am Eingang zur Station herrschte Chaos, wie es jeden Abend um diese Zeit herrscht. Auch hier: Im Vergleich dazu ist der HB um 18.00 Uhr eine saftige, weite Wiese mit lustig herumspringenden Zaubertierli. In der Tube aber ist’s serious business!
Die Leute drängelten und drückten sich gegen die Kartenlesegeräte, die ihnen Zugang zur Station gewähren sollten. Als ich an der Reihe war, wurde meine Kreditkarte nicht sofort gelesen (übrigens, VBZ, das wär doch mal eine Überlegung wert: Kontaktloses Zahlen! Kreditkarte beim Ein- und beim Aussteigen einlesen, kein Ticket, keine Anmeldung, zagg, Badanga! So einfach, so praktisch!).
Die Menge drückte sich von hinten gegen mich und bereits nach einigen Sekunden wurde mir ein entnervtes «Come on!!» in den Rücken gezischt. Beim dritten Mal Lesen funktionierte es dann (was circa zehn Sekunden in Anspruch genommen hatte) und von hinten tönte das «FINALLY» mit einer solchen Erleichterung, als hätte ich soeben eine Bombe entschärft und unser aller Leben gerettet.
Nach den Kartenlesern wird’s dann leider nicht besser. Auch auf dem Weg zu den Zügen ist’s ein stetiges Drücken und Schubsen, die Leute zischen sich ständig gegenseitig an. Als ich das das erste Mal erlebte, schüttelte ich den Kopf und fragte mich: «WHO ARE YOU PEOPLE??» Ich fühlte mich in eine Parallelgesellschaft zu derjenigen versetzt, die ich ausserhalb der Stosszeiten erlebe.
Neben mir ging gestern ein kleiner Junge, der Teil einer grösseren Familie war. Dem Herrn hinter ihm ging er jedoch entschieden zu langsam, worauf dieser ihn kurzerhand aus dem Weg hob. Nicht schob. Hob.
Ja, er hob ihn kurz auf und stellte ihn, im wahrsten Sinne des Wortes, zur Seite. Die arme Mutter, sowas muss schlimm sein, denn den kleinen Noel in einer solchen Völkerwanderung zu verlieren, während man noch Nancy, Lilly und Oliver dabei hat, stelle ich mir durchaus als Horrorszenario vor.
Doch weit gefehlt – anstatt stehenzubleiben und den Kleinen bei der Hand zu nehmen, liess sie ihre übrigen Kinder ebenfalls zurück, ging dem Mann hinterher, knallte ihm erst ein sattes «Fuck you, asshole!» und im Anschluss ihre Handtasche um die Ohren. Ich, die direkt zwischen den beiden stand, konnte mich noch ducken, sonst hätte wohl auch ich eine Leder-Flättere abbekommen.
Für grössere Diskussionen war keine Zeit, die Menge drückte von hinten, die Rolltreppe hinunter, zum Perron. Was aus Noel und seiner Sippe wurde, weiss ich nicht. Ich hoffe, ich sehe ihn nicht in 15 Jahren bei «Bitte melde dich!».
In den dritten Zug, der einfuhr, konnte auch ich mich dann quetschen. Auch hier wieder sagte ich mir selber mantramässig: «Ich werde mich nie wieder über volle Trams beklagen, ich werde mich nie wieder über volle Trams beklagen, ich werde mich nie wieder ...»
Der Zug war eine Art komprimierte Menschenwurst. Tetrisartig geschichtete Leute, ans Türglas gequetschte Köpfe, die beim Aussteigen einen Fettabdruck hinterliessen, die Haltestangen zu einer Art Maibaum aus Armen verwandelt.
Und wehe, eine/r kam auf die Idee, seinen Rucksack nicht auszuziehen und auf den Boden zu stellen – zagg! Die inoffizielle Tube-Polizei, die ihn/sie zurechtwies! Leute mit grösserem Gepäck versuchten gar nicht erst, sich in die Waggons zu quetschen.
Beim Aussteigen dann eine Art Hindernisparcours – über Rucksäcke, unter sich an Stangen haltenden Armen und zwischen zusammengedrückten, schwitzenden Körpern hindurch in die Freiheit. Nun ja, «Freiheit», denn man musste dann aus der Zielstation erstmal raus. Zur Rolltreppe quetschen, hochfahren, mit dem Strom zum Kartenleser, der – hurra! – glücklicherweise beim ersten Mal funktionierte. Die Treppen hoch und einfach bloss bloss bloss nicht stehenbleiben. Noel war mir eine Lehre!
Tja. So ist das, in London zur Rushhour Tube zu fahren. Da lobe ich mir meinen Job, der frei von festen Arbeitszeiten ist und der es mir erlaubt, ausserhalb der Stosszeiten zu reisen. Für alle andern in London bleibt da nur mein herzliches Beileid.
Und für mich die Erkenntnis, dass ich mich nie wieder über unsere ÖV beklagen werde. Ich schwör. Okay, ausser vielleicht, wenn IRGEND SO EIN TUBEL DIE FUCKING LEUTE NICHT ZUERST AUSSTEIGEN LÄSST...
Yonni Meyer
Yonni Meyer (33) schreibt als Pony M. über ihre Alltagsbeobachtungen – direkt und scharfzüngig. Tausende Fans lesen mittlerweile jeden ihrer Beiträge. Bei watson schreibt die Reiterin ohne Pony – aber nicht weniger unverblümt.
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