Fernab von Stars und Paparazzi erfindet sich in Cannes das Kino neu. In einem kleinen Pavillon am Strand. Eine grosse Leinwand an der Wand fehlt darin. Denn diese tragen die Menschen hier vor dem Kopf – als Display integriert in eine Brille.
Virtual Reality heisst die Technologie, mit der es möglich wird, eine Wahrnehmung zu erzeugen, als befände man sich selber in einem Kinofilm. Einen Rahmen, der das Bild begrenzt, gibt es nicht mehr; dreht man den Kopf, dreht sich das Bild mit. Alles ist Kino.
Das Potenzial von Virtual Reality (VR) ist gross. Was damit dereinst alles möglich sein wird, weiss noch niemand. Wie VR das Kino verändern wird noch weniger. Die Grossen in der Kinobranche geben sich zurückhaltend und hoffen insgeheim, dass möglichst nichts passiert. Dass das Kino so bleibt, wie es ist. Keine gute Strategie, findet Emmanuel Cuénod, Direktor des Filmfestivals Tous Ecrans in Genf. «Wir denken immer noch viel zu sehr in alten Kategorien wie ‹Film›, ‹TV› und ‹Games›. Doch in Zukunft wird sich vieles vermischen, und neue Formen werden entstehen», ist der Cineast überzeugt.
Herausgefordert wird das Kino von Start-ups, vornehmlich aus der Technik- und Gaming-Szene. Und nicht wenige kommen aus der Schweiz. Gleich vier hiesige Jungfirmen konnten ihre Projekte in Cannes präsentieren. Eines davon ist Apelab aus Genf mit «Sequenced» – einem Animationsfilm für die VR-Brille. Wobei der Begriff «Film» dem Ganzen eigentlich nicht gerecht wird. «Hier ist man als Zuschauer in der Mitte des Films und die Protagonisten reagieren sogar auf einen», erklärt Emilie Joly, die das Projekt kreativ mitverantwortet. Schaut man eine Person an, beginnt diese mit einem zu sprechen. Je nachdem, wohin der Zuschauer blickt, erfährt er andere Gegebenheiten der Geschichte. Die VR-Brille ermöglicht eine 360-Grad-Rundumsicht.
Brille und Kino? Hatten wir das nicht schon einmal? 3-D-Brillen wurden vor ein paar Jahren als die grösste Entwicklung des Kinos seit dem Tonfilm gefeiert. Mittlerweile sind sie unwichtiger geworden als das Popcorn. Zu Hause auf der Coach setzt sich kaum mehr jemand eine Brille auf, um einen Film in 3-D zu schauen. Filmzuschauer lieben Brillen nicht besonders. Bei der Virtual Reality könnte das aber anders sein.
Und das aus zwei Gründen:
Erstens: Die Initiative zu 3-D-Filmen ging von der Industrie aus, die dem Publikum neue TV-Geräte verkaufen wollte. Bei Virtual Reality hingegen kommen die Impulse von unten. Die Technologie wird von Start-ups vorangetrieben wie etwa vom amerikanischen Unternehmen Oculus. Dieses hat sich anfänglich mit einer Crowdfunding-Kampagne durch das Publikum finanziert. Mittlerweile wurde das Unternehmen von Facebook für 2,3 Milliarden Dollar gekauft, und auch andere Technik-Riesen entwickeln eigene Brillen.
Zweitens: Das Erlebnis mit einer VR-Brille ist unvergleichbar. 3-D-Kino ist aufgemotztes Fernsehen. Virtual Reality ein neues Medium.
Doch die Brille ist erst der Anfang. Das Start-up MindMaze will die virtuelle Realität zu einem noch intensiveren Erlebnis machen und lässt das Gehirn des Zuschauers direkt mit dem Film interagieren. Dafür hat das Spin-off der ETH Lausanne ein VR-Headset mit Elektroden entwickelt, welche die Hirnaktivität des Nutzers messen. So erkennt die Brille, ob der Zuschauer gerade entspannt, nervös oder gestresst ist – und kann den Film entsprechend anpassen.
Entwickelt wurde die Technologie ursprünglich zur Rehabilitation von Schlaganfall-Patienten. Doch Tej Tadi, der Chef des 20-köpfigen Unternehmens, ist überzeugt, das sie dereinst auch die Unterhaltungsindustrie verändern kann. «Wir werden personalisierte Kino- und Gaming-Erlebnisse ermöglichen», schwärmt er. Dabei denkt er etwa an ein Action-Game, bei dem sich die Geschwindigkeit der Stimmung des Spielers anpasst. Wenn während einer Schiesserei der Stresspegel des Spielers steigt, merkt das die Brille und schaltet auf Slow Motion um – wie im Film «Matrix». Der Spieler kann so dem Kugelhagel ausweichen. In einem Horrorfilm könnte ein Monster genau dann auftauchen, wenn sich der Zuschauer entspannt hat. Alles reguliert aufgrund der Hirnaktivitäten.
La Suisse numérique est bien arrivée à #Cannes2015 est prête pour conquérir demain sur la Croisette #Transmedia pic.twitter.com/g5mAYCiiML
— GameCulture (@gameculture_ch) 16. Mai 2015
Die Individualisierung der Gesellschaft und die Personalisierung der Medien werde auch das Kino verändern, ist Tadi überzeugt. Dass die gute alte Leinwand gänzlich durch futuristische Brillen abgelöst wird, davon ist nicht auszugehen. Auch das Fernsehen konnte das Kino nicht überflüssig machen – und das Radio gibts noch immer. Doch Virtual Reality wird das Kino herausfordern. Und während sich die Filmbranche der neuen Technologie nur zögerlich annähert, ist Facebook daran, ein eigenes Filmstudio für die VR-Brille Oculus Rift aufzubauen.